Jacques Derrida Das andere Kap Die vertagte Demokratie Zwei Essays zu Europa Aus dem Französischen von Alexander Garcia Düttmann Suhrkamp Der Band vereinigt zwei politische Texte Derridas: »Das andere Kap« und »Die vertagte Dernokratie«. Im ersten, dem umfänglichsten, geht es um die Identität Europas heute, nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der überkommenen Grenzen. Worin liegt die Bestimmung Europas, dessen »Kap« (Paul Valery)? Die Beantwor­ tung dieser Frage stößt an eine Aporie: Auf der einen Seite gibt es untrügliche Anzeichen, daß der nostalgische Traum eines glorreichen, beherrschenden Europas als der Kapitale der Welt wiederauflebt; auf der anderen Seite ist klar, daß unsere Zukunft als Europäer nur in der Differenzierung von dieser Vergangenheit liegen kann. Doch genau in dieser Aporie, ihren Spannungen und Divergenzen, ist, so Derrida, Europas künftige Identität begründet. »Die vertagte Dernokratie« läßt sich als eine am Verhältnis von öf­ fentlicher Meinung und Medien abgehandelte Konkretisierung dieses Programms lesen: Unter welchen Bedingungen ist eine wirkliche .or. fentlichkeit« im Sinne der Aufklärung möglich? Von Jacques Derrida erschien zuletzt in der edition suhrkamp: Ge­ setzeskraft (es 1645). Titel der Originalausgabe: L'autre cap suivi de La democratie ajournee edition suhrkamp 1769 Neue Folge Band 769 Erste Auflage 1992 © Les Editions Minuit, Paris t 99 t © der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Books on Demand, Norderstedt Printed in Germany Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt ISBN 978­3­518­11769­9 4 5 6 7 8 9 - I5 14 I3 I2 II IO Inhalt Heute 7 Das andere Kap 9 Anmerkungen 61 Die vertagte Demokratie 81 Heute Indem er mir den großzügigen Vorschlag machte, jenen Text als Buch ­ als kleine Schrift oder Broschüre ­ zu veröffent­ lichen, der zunächst nichts anderes war als ein Zeitungsarti­ kel, hat jeröme Lindon mich dazu gebracht, über den Bund nachzudenken, den ein Zufall und eine Notwendigkeit ein­ gegangen sind. Ich hatte bis dahin einem Umstand nur ungenügend Aufmerksamkeit geschenkt: dem Umstand nämlich, daß der Artikel Das andere Kap, sichtbar bedrängt und bestürmt von den Fragen der Zeitung und des Buchs, des Verlagswesens, der Presse und der Medienkultur, zwar in einer Zeitung, genauer: in einer Zeitschrift publiziert worden war (Liber. EuropäischeKulturzeitschrift, Oktober 1990, Nr. 3';), doch in einer Zeitschrift besonderer Art, die den Versuch unternimmt, sich der Regel zu entziehen. Sie wird nämlich­was ungewöhnlich genug ist­verschiedenen europäischen Zeitungen beigefügt, zum gleichen Zeitpunkt und in vier Sprachen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, L'Indice, Ei Pais, Le Monde). Es mutet wie ein Zufall an, und doch war jener andere Arti­ kel (Die vertagte Demokratie) im voraufgehenden Jahr eben­ falls in einer Zeitung veröffentlicht worden (in einer anderen und doch wiederum derselben Zeitung, Le Monde), glei­ chermaßen als Beilage einer besonderen Ausgabe, nämlich der ersten Nummer des Monde de la Revolution Francaise (januar 1989), das 1989, während der Zweihundertjahr­ feier der Französischen Revolution, insgesamt zwölfmal er­ schien. Die vertagte Demokratie beschäftigt sich mit ähn­ * Eine erste deutsche Teilübersetzung besorgte Elisabeth Weber (Kurs auf das andere Kap ­ Europas Identität). Seit September 1991 erscheint Liber als Bei­ lage vorerst nur noch in Italien (Indice) und Frankreich (Actes de la recbercbe en sciences sociales). (A. d. Ü.) 7 liehen Problemen wie Das andere Kap: vor allem mit denen des Verlegens, der Presse und der Zeitung, des Buchs und der Medien (in ihrem Verhältnis zur öffentlichen Meinung, zu den bürgerlichen Freiheiten, zu den Menschenrechten, zur Demokratie ­ und zu Europa). Nicht allein wegen der gemeinsamen, geteilten Thematik, sondern auch aufgrund dieser Situation oder dieser Umstände (eine Zeitung in der Zeitung, eine Zeitung als Sonderdruck) habe ich mir vorge­ stellt, daß es einigen Sinn machen könnte, beide Artikel nebeneinander und in das gleiche Licht zu stellen. Das Licht, der Tag, die Frage nach dem Tag oder die Tagesrefle­ xion, der Widerklang des Wortes heute (heutzutage: au­ jourd'hui): das ist es, was diese Zeitungsartikel (ihrem jeweiligen Datum, ihrem einstigen Tag entsprechend) am ehesten noch gemein haben, das ist es, was an Gemeinem sie enthalten. Sind jedoch die darin vorgebrachten Hypothesen und die darin formulierten Aussagen und Vorschläge heute überholt ­ heute, mitten in einem Kriege, der »Golfkrieg« genannt wird, zu einem Zeitpunkt, da die Probleme des Rechts, der öffentlichen Meinung und der durch die Medien vermittelten Kommunikation das allbekannte Gewicht. er­ halten und die allbekannte Dringlichkeit aufweisen? Der Leser soll darüber entscheiden. Es fügt sich so, daß heute das erste Wort der Vertagten Demokratie ist. Mag es auch nicht (vor allem nicht) das letzte Wort sein ­ vielleicht tritt es in ein Korrespondenzver­ hältnis zu dem, was in einer apostrophierenden Wendung Paul Valerys eigentümlich anklingt. Diese Wendung wird am Anfang des Textes Das andere Kap zitiert und dann hier und dort erneut aufgegriffen. Sie lautet: »Was werden Sie HEUTE tun?« 29.Januar 1991 Das andere Kap Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen':· Ein Kolloquium setzt stets alles daran, das eingegangene Risiko zu vergessen: nämlich nur eines jener Spektakel zu sein, bei deren Gelegenheit man ­ in guter Gesellschaft ­ eine Rede oder Abhandlung über ein allgemeines Thema neben die andere stellt. Ein kulturelles Spektakel etwa oder eine Vorführung­es sei denn, es handelt sich dabei um eben eine Übung, die das zum Gegenstand hat, was man mit einem besonders dunklen Wort als »Kultur« bezeichnet. Und die auch jene Frage betrifft, die immer aktuell bleiben wird: die Frage nach Europa. Unsere Begegnung wird nur dann eine gewisse Aussicht haben, der Wiederholung zu entgehen, wenn etwas Heran­ nahendes oder Bevorstehendes, gleichermaßen Chance wie Gefahr, uns seinen Druck spüren läßt. Was ist mit diesem Bevorstehenden gemeint? Etwas Ein­ zigartiges nimmt in Europa seinen Lauf, geht dort vor sich, wo man noch von Europa redet, mag man auch nicht mehr genau wissen, was oder wer so heißt. Denn welchen Begriff, welches reale Individuum, welche besondere Wesenheit, welches besondere Gebilde können heute mit diesem Na­ men versehen werden? Wer sollte die Grenzen dessen, was den Namen Europa trägt, umreißen? Weil es sich sowohl der Analogisierung als auch der Anti­ zipation verweigert, erscheint das, was sich auf solche Weise ankündigt, als ein noch nie Dagewesenes. Angsterfüllte Er­ fahrung des Bevorstehenden, die von zwei widersprüch­ '' Bevor eine gekürzte Fassung dieses Vortrags in Liber abgedruckt wurde, hielt ich ihn am 20. Mai 1990 inTurin; Anlaß war ein Kolloquium über »Die kultu­ relle Identität Europas«, an dem, unter Leitung von Gianni Vattimo, Maurice Aymard, Wladimir K. Bukowski, Agnes Heller, jose Saramago, Fernando Sa­ vater und Vittorio Strada teilnahmen. Die Anmerkungen wurden erst nach­ träglich hinzugefügt. 9 liehen Gewißheiten durchzogen wird. Das sehr alte Thema (Subjekt) der kulturellen Identität im allgemeinen (vor dem Krieg hätte man vielleicht von der »geistigen« Identität ge­ sprochen), das sehr alte Thema (Subjekt) der europäischen Identität zeichnet sich ohne Zweifel durch das ehrwürdig Altertümliche eines verbrauchten, erschöpften Themas aus. Vielleicht aber wahrt dieses »Therna« (»Subjekt«) einen jungfräulichen, unberührten Körper. Verbirgt sein Name nicht etwas, was noch kein Gesicht hat, ist sein Name nicht die Maske dessen, was ein Gesicht noch entbehrt? Furcht­ sam und zitternd, dabei hoffnungsvoll, fragen wir uns, wem dieses Gesicht ähnlich sehen wird. Wird es überhaupt Ähn­ lichkeit mit einem anderen Gesicht haben? Mit einer per­ sona, die wir zu kennen vermeinen, mit Europa? Wird es, wenn seine Unähnlichkeit, sein Nicht­ähnlich­Sehen die Züge der Zukunft trägt, das Monströse abschütteln kön­ nen? Hoffnung, Furcht und Zittern sind durchaus den Zeichen angemessen, die wir überall in Europa wahrnehmen. Ge­ rade im Namen der Identität (kulturell definiert oder nicht) wird hier nun die schlimmste Gewalt entfesselt, ereignen sich die schlimmsten Gewalttätigkeiten; jene, die wir nur zu schnell erkennen, ohne ihr Wesen gedacht zu haben, die Verbrechen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des religiösen oder nationalistischen Fana­ tismus. Diese Verbrechen verbinden sich miteinander, sie verbinden sich indes auch ­ und durchaus nicht zufällig ­ mit dem Hauch, dem Atem, dem »Geist« des Versprechens selber. Erlauben Sie mir, Ihnen zu Beginn etwas anzuvertrauen, was ich empfinde. Es hat bereits mit dem Kap zu tun ­ und mit den Rändern, Säumen und Ufern, an denen ich mich aufhalten möchte. Was ich empfinde, ist das von einer ge­ wissen Belastung und Übermannung geprägte Gefühl eines alten Europäers. Genauer noch: es ist das Gefühl eines 10 Menschen, der nicht eigentlich gebürtiger Europäer ist (ich komme vom südlichen Küstenstrich des Mittelmeers) und mit fortschreitendem Alter sich immer mehr für eine Art über­kolonialisierten Mischling hält, für einen Mischling, den eine übermäßige Akkulturation charakterisiert (die la­ teinischen Wörter, von denen sich Kultur und Kolonialisa­ tion herleiten, haben eine gemeinsame Wurzel ­ gerade wo es um jenes geht, was den Wurzeln widerfährt). Vielleicht ist es das Gefühl eines Menschen, der, seitdem er im französi­ schen Algerien zur Schule ging, versuchen mußte, das hohe Alter Europas zu kapitalisieren und sich dabei zugleich et­ was von der ungerührten und unempfindlichen Jugend des anderen Ufers, der anderen Seite zu bewahren: Spuren oder Anzeichen einer Unbefangenheit, unfähig noch, sich des anderen hohen Alters zu versichern, von dem die französi­ sche Kultur diesen Menschen sehr früh schon getrennt hatte. Dieses Gefühl eines alten, unzeitgemäßen Europäers, ju­ gendlich und (aufgrund) seines Alters müde, werde ich in das erste Axiom dieser kleinen Rede verwandeln. Ich werde jetzt »wir« statt »ich« sagen, was nichts anderes bedeutet, als daß eben auf heimlich­erschlichene Weisevon einem Ge­ fühl zu einem Axiom übergegangen wird. Wir Europäer sind jünger denn je, da es ein bestimmtes Europa noch nicht gibt. Hat es dieses Europa jemals gege­ ben? Wir gehören jedoch zu jenen jungen Menschen, die sich im Morgengrauen schon alt und müde von ihrem Lager erheben. Wir sind bereits erschöpft. Dieses Axiom der End­ lichkeit enthält einen Schwarm an Fragen, es stellt einen Ansturm dar, mit dem uns Fragen überfallen. Von welcher Erschöpfung müssen wir uns ­ müssen sich die jungen Alt­ europäer erholen, um erneut aufzubrechen? Sollen sie von neuem beginnen? Oder sollen sie sich ­ VerabschiedungEu­ ropas ­ vom alten Europa trennen? Sollen sie zu einem Europa aufbrechen, das es noch nicht gibt? Oder sollen sie II aufbrechen, um zu einem ursprünglichen Europa zurück­ zukehren, das es wiederherzustellen, wiederzufinden, wie­ derzugestalten gilt, mitten in einer großen Feier der »Wie­ derbegegnung«, des »Sichwiederfindens«? Der Ausdruck »Wiederbegegnung« [retrouvailles]ist heu­ te ein offizieller Ausdruck. Er gehört zum Sprachgebrauch der französischen Kulturpolitik in Europa. In den Reden und Dokumenten der Ministerien wird sich seiner häufig bedient ­ als Kommentar etwa einer Bemerkung von Fran­ cois Mitterand: Der Präsident der Republik hat nämlich behauptet (vielleicht sogar, als er vor der Europäischen Ge­ meinschaft sprach und sie präsidierte), daß Europa »ZU sei­ ner Geschichte und zu seiner Geographie zurückfindet, wie man nach Hause zurückkehrt«, Was heißt das? Ist das mög­ lich? Erstrebenswert? Ist es das, was sich heute ankündigt? Ich werde nicht einmal den Versuch unternehmen (zumin­ dest nicht jetzt unmittelbar), auf all diese Fragen zu antwor­ ten. Ich möchte es aber riskieren, ein zweites Axiom vorzu­ bringen. Denn ich glaube, daß es vorausgesetzt werden muß, bevor man überhaupt solchen Fragen und Behauptungen (»Wiederbegegnung«, ­Sichwiederfinden«) Sinn verleihen kann. Obwohl mich meine Neigungen und Überzeugungen dazu anhalten müßten, die Begriffe der Identität und der Kultur ­ sowie den Eigennamen »Europa« ­ genealogisch zu untersuchen, muß ich hier darauf verzichten ­ aus Zeit­ mangel und weil dies nicht der geeignete Ort dafür ist. Ich muß indes auf eine etwas dogmatische Art eine Notwendig­ keit formulieren, die äußerst schroff und trocken anmuten mag und deren Folgen unsere gesamte Problemstellung be­ treffen können. Mein zweites Axiom lautet: Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, »ich«, »wir« oder »uns« sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie, wenn Sie so wollen, 12 mit sich differiert [ difference avec soz]. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst. Seltsame und ein wenig gewaltsame Syntax: avec soi (s­mit sich«) bedeutet auch chez soi (sbei sich«) ­ avec ist chez, »apud hoc«. Unter diesen Umständen ist das Von­ sich­selber­sich­Unterscheiden [difference a soz], das Von­ sich­selber­sich­Trennen und ­Entfernen ebenfalls ein Bei­ oder Mit­sich­(Von­sich­)Differieren [ difference (d') avec soz], dem »Bei­Sich« innewohnend und zugleich nicht auf es zurückführbar. Es hält die Heimstätte des »Bei­Sich« zu­ sammen und teilt sie auch unwiderruflich. In Wahrheit hält es sie nur zusammen, und bezieht sie auf sich selbst, um sie auf diesen Abweg, auf diese Abweichung hin zu öffnen. Man kann dies umgekehrt (oder entsprechend) von jeder Identität, von jeder Identifikation behaupten: Es gibt kei­ nen Selbstbezug, keine Identifikation mit sich selber ohne Kultur­ ohne eine Kultur des Selbst als Kultur des anderen, ohne eine Kultur des doppelten Genitivs und des Von­sich­ selber­sich­Unterscheidens, des Unterscheidens, das mit ei­ nem Selbst einhergeht [ difference a soz]. Die Grammatik des doppelten Genitivs zeigt auch an, daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat. Die Monogenealogie stellt sich somit immer als Mystifikation in der Geschichte der Kultur dar. Wird das Europa von gestern, von morgen oder von heute nichts als ein Beispiel für dieses Gesetz sein? Ein Beispiel unter anderen? Oder wird es die beispielhafte Möglichkeit dieses Gesetzes gewesen sein? Hält man dadurch dem Kul­ turerbe die Treue, daß man das Von­sich­selber­sich­Unter­ scheiden (mit, bei sich) kultiviert, das die Identität konstitu­ iert, oder eher dadurch, daß man sich an der Identität ausrichtet, in der sich jenes Sich­Unterscheiden, jenes Dif­ ferieren wieder sammelt? Diese Frage kann die beunruhi­ gendsten Auswirkungen auf Diskurs und Politik der kultu­ rellen Identität haben. 13 In seinen Notes sur la grandeurs et la decadence de l'Eu­ rope (Anmerkungen zur Größe und zum Verfall Europas) scheint Valery einen vertrauten Gesprächspartner heraus­ fordern zu wollen, einen Gesprächspartner, der uns nahe steht und zugleich noch fremd ist. In einer Anrede wirft er ihm das Wort »heute« entgegen, als würde es sich um die Zuschickung einer Frage handeln, die ihn selber nicht mehr in Ruhe läßt. »HEUTE«: das Wort ist mit Kapitalbuchsta­ ben geschrieben; heute, der heutige Tag vergrößert sich so, daß man denken kann, es handle sich dabei um die eigent­ liche Herausforderung. Die große Herausforderung, die kapitale Herausforderung ist der heutige Tag, heute, an die­ sem Tag: ­Nun also! Was werden Sie tun? Was werden Sie HEUTE tun?« (Valery, tEuores II, Paris 1960, S. 931) Weshalb verdient der heutige Tag, der Tag »heute« solche Kapitalbuchstaben? Weil gerade jenes, was zu tun und zu denken uns heute schwerfällt (zu tun und zu denken für Europa, für ein Europa, das sich oder das man von der Selbstidentifikation als Wiederholung seiner selbst los­ reißt), die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des HEUTE ist, ein gewisses Ereignis, die singuläre Ankunft Europas, hier und heute. Kennt Europa ein gänzlich neues Heutevein Heute von einer Neuheit, die vor allem dem nicht ähnelt, was man das »Neue Europa« genannt hat? Das »Neue Eu­ ropa« ist ein bekanntes und besonders unheilvolles Pro­ gramm; ständig, auf Schritt und Tritt stoßen wir auf derar­ tige Fallen, die keineswegs bloß Fallen des Sprachgebrauchs sind: sie stehen auf dem Programm. Kennt also Europa ein völlig neues Heute, jenseits aller erschöpften und erschöp­ fenden Programme des Eurozentrismus und des Anti­Euro­ zentrismus? Diese Programme sind freilich unvergeßlich ­ wir können und dürfen sie nicht vergessen, da sie uns auch nicht vergessen. Nehme ich den Mund zu voll, wenn ich in »unserem« Namen spreche und sage, daß wir heute, da wir sie in­ und auswendig kennen und Erschöpfung unsere 14 Kenntnis prägt (diese unvergeßlichen Programme sind ja erschöpft und erschöpfend), weder einen Eurozentrisrnus noch einen Anri­Eurozentrisrnus wollen? Für welche »kul­ turelle Identität« müssen wir einstehen, wenn wir über die nur allzu bekannten Programme hinausgehen? Vor wem müssen wir uns dann verantworten? Vor welchem Gedächt­ nis? Im Sinne welchen Versprechens? Ist »kulturelle Identi­ tat« heutzutage das rechte Wort, ist es das rechte Wort für »heute«, für den heutigen Tag? Ein Titel ist immer ein Kap. Ein Titel ist der Kopf eines Kapitels, ein Kopf im Sinne der Überschrift. Als ich für einige kurze, beinahe improvisierte Gedankengänge den Ti­ tel »Das andere Kap« vorschlug, dachte ich zunächst ­ im Flugzeug ­ an die Sprache der Luft­ und Seeschiffahrt. Auf dem Meer oder in den Lüften nimmt ein Schiff Kurs, es steuert an: es nimmt Kurs auf, zum Beispiel auf einen ande­ ren Kontinent, auf einen Bestimmungsort, der sein Bestim­ mungsort bleibt, der sich aber auch ändern kann. In meiner Sprache ­ im Französischen­sagt man »[aire cap« (»ansteu­ ern, Kurs nehrnen«), desgleichen »changer de cap« (»den Kurs ändern«). Das Wort »cap« (caput, capitis) meint, wie Sie wissen, den Kopf, das Haupt, das äußerste Ende eines Außenglieds, einer Verlängerung oder eines Extrems, es meint das Ziel, die Spitze und den Zipfel, jenes Äußerste, das zuletzt kommt, das Letzte, die letzte Verlängerung oder das letzte Ende, es meint das eschaton im allgemeinen; im Bereich der Schiffahrt weist es (dem Fahrenden) den Pol, das Ende, das Ziel, das Telos einer gerichteten, berechneten, gewollten, beschlossenen, ausgemachten, angeordneten Bewegung zu. Dieses Zuweisen geschieht meistens durch jemanden, der keine Frau ist: Im allgemeinen ­ und vor allem in Kriegszeiten ­ ist es ein Mann, der über das Ziel, über die vorgeschobene Spitze entscheidet, die er selber ist, er, der Bug, als Haupt dem Schiff oder Flugzeug vorste­ hend, das er steuert. Die Eschatologie und die Teleologie ­ 15 das ist der Mann. Er erteilt der Besatzung Befehle, hält das Steuerruder oder den Steuerknüppel, er, das Haupt, be­ hauptet sich gegenüber der Besatzung und der Maschine ­ häufig nennt man ihn Kapitän. Die Wendung „das andere Kap« kann auch zu verstehen geben, daß sich eine andere Richtung ankündigt oder daß man den Bestimmungsort ändern muß. Die Richtung än­ dern: das kann bedeuten, daß man das Ziel ändert und für ein anderes Kap sich entscheidet oder daß man den Kapitän auswechselt, daß man einen anderen Kapitän wählt und ­ weshalb eigentlich nicht ­ einen Kapitän anderen Alters und anderen Geschlechts; es kann bedeuten, daß man sich an das andere Kap erinnert, an den Umstand, daß es ein anderes Kap gibt ­ das Kap ist ja nicht allein unser Kap, es ist auch das andere, es ist nicht nur jenes, das wir identifizieren, mit dem wir rechnen, über und für das wir (uns) entscheiden, sondern ebenso das Kap des anderen, vor dem wir uns ver­ antworten, dessen wir gedenken und von dem aus wir uns erinnern müssen. Vielleicht ist das Kap des anderen die wichtigste Bedingung für eine Identität oder für eine Identi­ fikation, die nicht auf einen zerstörerischen Egozentrismus angelegt ist, auf einen Egozentrismus, der das Selbst und den anderen zerstört. Jenseits unseres Kaps gilt es jedoch nicht nur, sich dem anderen Kap in Erinnerung zu bringen und sich am anderen Kap in Erinnerung zu rufen, es gilt nicht nur, sich dem Kap des anderen in Erinnerung zu bringen und sich am Kap des anderen in Erinnerung zu rufen ­ vor allem gilt es, sich dem anderen des Kaps in Erinnerung zu bringen und sich am anderen des Kaps in Erinnerung zu rufen: Ich meine damit ein Verhältnis zum anderen, das nicht länger der Form, dem Zeichen oder der Logik des Kaps folgt, nicht einmal der Form, dem Zeichen oder der Logik des Anti­Kaps oder der Dekapitation. Auch wenn ein Titel also ein Kap oder der Kopf eines Kapitels ist, führt uns der wahre Titel dieser 16 Überlegungen eher in Richtung auf das andere des Kaps. Ich werde nun eine Auswahl treffen und die Gestalt all meiner Aussagen von einer Grammatik und einer Syntax des Kaps, von einem Gattungsunterschied ­ von dem Kapital [le capi­ tal] und von der Kapitale [la capitale] ­ abhängig machen. Wie kann eine »kulturelle Identität Europas« auf die dop­ pelte Frage des Kapitals und der Kapitale antworten, wie kann sie dies auf verantwortliche Weise tun, auf eine Weise, die sich ihr selbst und dem anderen gegenüber als verant­ wortlich erweist, die verantwortlich ist vor dem anderen? Heute ­ ein Heute, das Valery mit Kapitalbuchstaben ver­ sieht ­ ist Europa an einem Augenblick seiner Geschichte, der Geschichte seiner Kultur angelangt, da man es nicht mehr vermeiden kann, die Frage des Kaps zu stellen (vor­ ausgesetzt freilich, daß Europa eine Geschichte hat, eine einzige, wiedererkennbare Geschichte, und daß die Ge­ schichte der europäischen Kultur sich als eine solche zu identifizieren und ihrer selbst gedenkend für sich Verant­ wortung zu tragen vermag). Wie immer auch die Antwort lautet ­ die Frage stellt sich weiterhin. Ich würde sogar be­ haupten, daß sich die Frage weiterhin stellen, daß sie erhal­ ten bleiben muß: jenseits aller möglichen Antworten. Im übrigen denkt heute niemand daran, einer solchen Frage auszuweichen. Und zwar nicht erst aus Gründen, die mit dem zusammenhängen, was in den letzten Monaten im Osten und in der Mitte Europas in Gang gekommen ist oder vielmehr eine Beschleunigung erfahren hat. Diese Frage ist auch eine sehr alte Frage, so alt wie die europäische Ge­ schichte. Doch mit der Erfahrung des anderen Kaps oder des anderen des Kaps stellt sie sich auf vollkommen neue Weise, sie stellt sich auf neue Weise neu, nicht wie »wie immer« oder »wie gewöhnlich­ neu. Wie, wenn Europa nichts anderes wäre als die Eröffnung, Auftakt einer Ge­ schichte, für die die Kursänderung, der Wechsel des Kaps, der Bezug zum anderen Kap oder zum anderen des Kaps sich als eine fortwährend bestehende Möglichkeit erweist? Könnte Europa in gewisser Hinsicht die Verantwortung tra­ gen für diese Öffnung, die das Gegenteil des Ausschlusses ist? Könnte Europa auf konstitutive Art die Verantwortung für diese Öffnung sein? So, als stünde der Begriff der Ver­ antwortung im Zuge seiner eigenen Befreiung noch für eine europäische Geburt(surkunde) ein? Wie jede Geschichte setzt die Geschichte einer Kultur zweifellos ein wiedererkennbares Kap voraus, ein Telos, auf das sich die Bewegung, das Gedächtnis und das Verspre­ chen, die Identität­und sei es die Identität als eine von sich selbst unterschiedene ­ richten, erfüllt von der Sehnsucht nach Sammlung; sie richten sich auf das Telos durch das Vorauseilen, das die Antizipation (anticipatio, anticipare, antecapere) gestattet. Aber die Geschichte setzt auch vor­ aus, daß das Kap nicht gegeben, daß es nicht im voraus und ein für allemal identifizierbar ist. Der Einbruch des Neuen, die Einzigartigkeit des anderen heute/Heute müssen zwar als solche erwartet werden (ist es überhaupt möglich, daß es das Einzigartige und andere als solches gibt, als Phänomen, ist dessen Als­solches­Sein möglich?), sie müssen als das Un­ erwartete, Unberechenbare, Unvorhersehbare antizipiert werden, als das Unbeherrschbare, das Nicht­Wiederer­ kennbare, als jenes, über dessen Gedächtnis man noch nicht verfügt. Indes sagt uns unser altes Gedächtnis, daß man das Kap auch antizipieren und bewahren muß; wir müssen nämlich befürchten, daß dort, wo das zuweilen in ein Schlagwort verwandelte Motiv des Unvorhersehbaren und des absolut Neuen auftaucht, das Gespenst des Schlimm­ sten ­ jenes, das wir bereits identifiziert haben ­ wieder­ kehrt. Das »Neue« kennen wir nur allzu gut; bekannt ist uns zumindest die alte Rhetorik, die Demagogie, die Psych­ agogik des »Neuen« ­ ja der »neuen Ordnung« ­, des Überraschenden, des Unberührten, des Unvorhersehba­ ren. Wir müssen deshalb sowohl dem wiederholenden Ge­ 18 dächtnis als auch dem ganz anderen des vollkommen Neuen mißtrauen; wir müssen mißtrauisch sein gegenüber der ana­ mnestischen Anhäufung oder Kapitalisierung und gegen­ über der von Gedächtnisschwund geprägten Aussetzung, die sich dem überantwortet, was sich überhaupt nicht mehr identifizieren läßt. Soeben habe ich auf das Erdbeben angespielt, welches das sogenannte Mitteleuropa und das sogenannte Osteuropa er­ schüttert hat; unter so problematischen Bezeichnungen wie Perestroika, Demokratisierung, Wiedervereinigung, Ein­ stieg in die freie Marktwirtschaft, Zugang zum politischen und ökonomischen Liberalismus. Dieses Erdbeben, das de­ finitionsgemäß keine Grenzen kennt, ist sicherlich der Grund, den man als ersten anführen muß, will man die Wahl des Gegenstandes rechtfertigen, der im Mittelpunkt unserer Debatte über eine »kulturelle Identität Europas« steht. Es geht mir zunächst darum, an jenes zu erinnern, was Europa stets mit einem Kap gleichgesetzt hat. Stets, toujours: das Wort verweist ­ im Französischen ­ auf all die Tage des Heute und des Heutzutage, die ihren Ort haben im euro­ päischen Gedächtnis, im Gedächtnis seiner selbst als Kultur Europas. In seiner natürlichen Geographie und in dem, was man häufig als seine geistige Geographie bezeichnet hat (man denke etwa an Husserl), hat sich Europa stets als Kap wiedererkannt, sei es im Sinne des im Westen und im Süden vorgeschobenen Teils eines Kontinents (Grenze des Festlan­ des, vorgelagerte Spitze des Finistere, Kap Finisterre, Eu­ ropa des Atlantiks und des griechisch­lateinisch­iberischen Mittelmeerufers), als dem Ausgangspunkt für Entdek­ kungsreisen, Erfindungen und Ansiedlungen, sei es im Sinne des Mittelpunkts einer Zunge oder einer Sprache, die selber die Gestalt eines Kaps hat, im Sinne also des Europas der Mitte, das einer griechisch­germanischen Achse folgend zusammengehalten und festgeschnürt wird, im Mittelpunkt der Mitte des Kaps. So hat denn auch Valery Europa beschrieben und be­ stimmt: als ein Kap; wenn diese Beschreibung das Aussehen einer definierenden Bestimmung hatte, dann lag das daran, daß der Begriff hier der Grenze entsprach. Das ist die ganze Geschichte dieser Geographie. Valery beobachtet und be­ trachtet Europa, er faßt es ins Auge, er sieht darin ein Gesicht, eine persona, die er für eine führende Kraft hält, also für ein Kap. Dieses Haupt hat auch Augen, es dreht sich zur Seite und sucht mit ihnen den Horizont ab, es wacht, indem es sich in eine bestimmte Richtung kehrt: Die meisten, die überraschendsten, die fruchtbarsten die­ ser Verwirklichungen wurden durch einen ziemlich kleinen Teil der Menschheit und auf einem im Verhältnis zur ganzen bewohnten Erde winzigen Raum erreicht. Europa ist dieser bevorzugte Ort gewesen; der Euro­ päer, der europäische Geist der Vollbringer dieser Wun­ der. Was ist nun dieses Europa? Es ist gleichsam ein Kap der alten Welt, ein westlicher Ausläufer Asiens. Von Natur blickt es nach Westen, im Süden grenzt es an ein ruhmrei­ ches Meer, dessen Rolle ­ dessen Funktion, sollte ich sagen, bei der Hervorbringung dieses europäischen­ Gei­ stes, mit dem wir uns beschäftigen, erstaunlich wirksam geworden ist.1 Ein Kap, ein »kleines [geographisches] Kap«, ein Ausläufer oder »Anhängsel« des »asiatischen Kontinents­ und Kör­ pers ­ das macht in Valerys Augen das Wesen Europas aus, das ist sein Wesen, sein wirkliches Sein. Im Rahmen des klassischen und zugleich provozierenden Paradoxons dieser Grammatik wird sich die erste Frage nach Sein und Zeit als eine teleologische oder vielmehr als eine gegen­teleologi­ sche gestellt haben: Wenn dies Europas Wesen ist, wird es dann eines Tages jenes werden, was es ist (recht wenig, bloß ein kleines Kap und ein Anhängsel), oder wird es das blei­ ben, was nicht sein Wesen ausmacht, wird es weiterhin den 20 Anschein eines vom Kap eingehüllten »Hirns« oder »Ver­ standes« erwecken? Das wahre und bessere Telos gibt sich hier auf der Seite des Scheins, nicht auf der des Wesens zu erkennen. Valery gefällt es ­ gleichsam beiläufig ­ zu sagen, daß es sich dabei gerade um eine entscheidende, »kapitale« Frage handelt: Nun birgt die gegenwärtige Stunde diese kapitale Frage: Wird Europa seinen Vorrang auf allen Gebieten behaup­ ten? Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Kap des asiatischen Kontinents? Oder aber wird Europa bleiben, was es zu sein scheint: der wertvollste Teil der Erde, die Krone des Planeten, das Gehirn eines umfassenden Körpers ?2 Ich unterbreche kurz meine Rekapitulation all der Kaps oder Köpfe, die Kapiteln voranstehen, um darauf aufmerk­ sam zu machen, daß an diesem Tisch in überwiegender Zahl Männer und Bürger Westeuropas sitzen, Schriftsteller oder Philosophen im Sinne des klassischen Modells des europäischen Intellektuellen: dieser verstanden als ein Hü­ ter von Gedächtnis und Kultur, als ein Bürger, dem eine Art geistige Sendung Europas aufgegeben ist. Kein Engländer befindet sich an diesem Tisch ­ obwohl doch die anglo­ amerikanische Sprache heute die zweite Weltsprache ist, be­ stimmt, alle anderen Sprachen dieser Welt zu übersetzen und also zu verdoppeln; ich rühre damit an eines der we­ sentlichen Probleme, mit denen die Kultur es heute zu tun hat, vor allem die europäische Kultur, zu der die anglo­ amerikanische Sprache gehört und zugleich doch nicht ge­ hört (wenn ein französischer Intellektueller nach Moskau reist ­ eine Erfahrung, die ich gemacht habe und die uns allen gemein ist­, bewährt sich das Anglo­amerikanische als Mittiersprache: so wie auch an diesem Tisch, zumindest für zwei der Teilnehmer, Agnes Heller und Wladimir Bu­ kowski, die faktisch weder aus Ungarn noch aus Rußland 21 kommen, sondern von großen angelsächsischen Universitä­ ten). Wir sind hier also mehrheitlich männliche Vertreter der kontinentalen Spitze des europäischen Kaps, einbezogen in das, was man die europäische Gemeinschaft nennt, und ausgezeichnet durch einen mediterranen Schwerpunkt. Un­ abhängig davon, ob sich dabei ein Zufall oder eine Notwen­ digkeit als ausschlaggebend erweisen, haben diese Merk­ male einen diskriminierenden, unterscheidenden und einen bedeutsamen, Bedeutung stiftenden Zug. Sie scheinen je­ denfalls emblematisch zu sein; was ich an dieser Stelle unter dem Titel des »Kaps«, des anderen Kaps oder des anderen des Kaps vorzubringen versuche, steht zumindest auf ver­ mittelte Weise im Zeichen dieses emblematischen Charak­ ters. Europa ist nicht allein ein geographisches Kap, das stets sich selbst die Gestalt eines geistigen Kaps verliehen hat­ im Sinne eines Entwurfs, einer unendlichen und folglich uni­ versellen Aufgabe oder Idee: Gedächtnis seiner selbst, das sich sammelt und akkumuliert, das sich in, an und für sich kapitalisiert. Europa hat ebenfalls sein Abbild, sein Ge­ sicht, seine Gestalt und sogar seine Stätte, sein Statt­Haben mit dem Bild einer vorgeschobenen Spitze konfundiert, mit der Darstellung eines Phallus, wenn Sie so wollen, also wie­ derum mit einem Kap der weltumspannenden Zivilisation oder der menschlichen Kultur im allgemeinen. Die Idee ei­ ner vorgeschobenen Spitze der Beispielhaftigkeit ist die Idee der europäischen Idee, sie ist deren eidos, sei es in der Form einer arche (Idee des Anfangs und des Befehls, des Kaps als Haupt, als Ort des kapitalisierenden Gedächtnisses und der Entscheidung des Kapitäns), sei es in der Form eines telos (Idee eines Endes, einer Grenze, an der sich etwas vollen­ det, einer Grenze, die ein Ende setzt, Ende der Vollendung, Ziel des Abschlusses und des Ergebnisses). Die vorgescho­ bene Spitze ist Anfang und Ende zugleich, als Anfang und Ende teilt sie sich, sie teilt sich in Anfang und Ende. Sie ist 22 der Ort, von dem aus oder im Hinblick auf den sich alles ereignet. (Wenn Heidegger den Ort" bestimmt, erinnert er daran, daß dieses Wort im Althochdeutschen die Spitze des Speers bedeutet; alle Kräfte treffen in der Spitze zusammen, weil sie das Ende, die Grenze ist, an der sich die Kräfte sammeln. Und wenn Heidegger von der Frage sagt, daß sie die Frömmigkeit des Denkens sei, weist er darauf hin, daß [romm" und Frbrnrnigkeit" sich von promos herleiten: von dem, was an erster Stelle kommt, was die Vorhut, die Spitze beim Kampf anführt oder leitet.)3 Bestimmt, gebildet, kultiviert hat sich Europa stets da­ durch, daß es die Gestalt des westlichen Kaps angenommen hat, die Gestalt der Spitze als Endzweck. Europa identifi­ ziert sich selbst aufgrund dieser Gestalt; durch sie identifi­ ziert es sich mit sich selber und identifiziert so seine eigene kulturelle Identität, im Für­sich­Sein seiner höchsten Ei­ gentlichkeit, in seiner eigenen Differenz, die ein Mit­sich­ Differieren ist, ein Von­sich­selber­sich­Unterscheiden, das bei sich selber bleibt, in der Nähe seiner selbst: ja, die Dif­ ferenz ist ein Mit­sich­Differieren, mit dem Sich, dem Selbst, das sich bewahrt und sich in seiner eigenen Diffe­ renz, in seinem Unterschiedensein von anderem wahrt und sammelt. Es sammelt sich als ein Von­sich­selbst­sich­Un­ terscheiden, für sich von sich unterschieden, der Versu­ chung, dem Risiko oder der Chance ausgesetzt, den Wirbel des von bei sich beizubehalten und zu bewahren, beruhigt durch die Verwandlung in eine bloß innere Grenze, die von wachsamen Hütern des Seins gesichert wird. Ich sollte meinen Versuch des Erinnerns, des In­Erinne­ rung­Rufens unterbrechen und die Richtung wechseln. Wir kennen dieses Programm der Selbstreflexion oder der Selbstdarstellung Europas. Denn ­ lassen Sie es mich wie­ derholen ­ wir sind alt. Das alte Europa scheint alle Mög­ * Wenn nicht anders vermerkt, hier und im folgenden im Original deutsch. (A.d.Ü.) 23 lichkeiten erschöpft zu haben, Diskurse und Gegen­ Diskurse über seine eigene Identifikation hervorzubringen. Stets hat die Dialektik in all ihren wesentlichen Formen ­ auch als Anti­Dialektik­ im Dienst dieser Autobiographie Europas gestanden, selbst dann, wenn sie sich den Anstrich von Bekenntnissen geben konnte. Das Bekenntnis, das Ein­ geständnis der Schuld, die Selbstanklage entziehen sich ebensowenig dem alten Programm wie die feierlich­feiernde Selbsterhöhung. Vielleicht zeichnet sich die Identifikation im allgemeinen durch ihre kapitale Gestalt aus, durch die Gestalt des Bugs, den eine vorgeschobene Spitze bildet, durch die Gestalt der kapitalisierenden Reserve. Die Identi­ fikation im allgemeinen: das heißt die Bildung und die Behauptung einer Identität, die Selbstdarstellung und Selbstvergegenwärtigung, die Selbstgegenwart der Identität (mag es sich um eine nationale, nicht­nationale, um eine kulturelle oder nicht­kulturelle Identität handeln; aller­ dings ist die Identifikation immer kulturellen Ursprungs, sie ist nie natürlicher Herkunft: sie ist ein Sich­in­sich­Ent­ äußern, das Mit­sich­Differieren der Natur). Wenn ich Ih­ nen also die Entfaltung eines Gegen­Programms erspare, das sich dem archeo­teleologischen Programm der europäi­ schen Diskurse über Europa widersetzt, so liegt das nicht einfach am Zeitmangel. Ich weise lediglich darauf hin, daß der traditionelle Diskurs, der von Hegel zu Valery, von Husserl zu Heidegger reicht, bereits ein Diskurs des moder­ nen Westens ist (ungeachtet der Unterschiede, die all diese großen Beispiele voneinander trennen; an anderer Stelle, in meinem Buch Vom Geist etwa, habe ich versucht, die frag­ lichen Unterschiede kenntlich zu machen). Es handelt sich um einen Diskurs, der Epoche macht, der Epoche gemacht hat und der deshalb überkommen ist. Kein Diskurs ist aktu­ eller, nichts verfügt über eine größere Aktualität als dieser Diskurs; zugleich ist er aber ein überkommener Diskurs. Seine Aktualität läßt uns eine auf vertraute Weise beunruhi­ gende Falte erkennen, kaum bemerkbar und dennoch un­ übersehbar, das Stigma einer Anachronie, die jeden einzel­ nen unserer Tage, die das Licht unserer Gegenwart, die unsere Gesten, unsere Diskurse, unsere öffentlichen und privaten Gefühle prägt. Der Diskurs, um den es hier geht, ist überkommen, weil er herrührt von einem Augenblick, da Europa sich am Horizont selber erkennt, also von seinem nahenden Ende her betrachtet (auf griechisch meint Hori­ zont die Grenze). Der alte beispielhafte und beispielge­ bende Diskurs über Europa ist bereits ein traditioneller Diskurs der Modeme. Aufgrund des Geschmacks, den er am Ende, ja am Tod zu finden scheint, ist er auch der Dis­ kurs der Anamnese. Unsere Aufgabe besteht darin, auf diesen Diskurs der modernen Tradition zu antworten und uns ihm gegenüber verantwortlich zu zeigen. Durch das kapitalisierende Ge­ dächtnis, das wir von ihm wahren, tragen wir noch Verant­ wortung für dieses Erbe. Wir haben diese Verantwortung nicht frei gewählt, sie ist uns auferlegt und ist um so gebie­ terischer, weil sie als andere und vom anderen aus die Spra­ che unserer Sprache ist. Wie sollen wir diese Verantwor­ tung, diese kapitale Pflicht auf uns nehmen? Wie sollen wir antworten? Wie können wir eine Verantwortung überneh­ men, die sich als widersprüchlich erweist, da sie uns von Beginn an in eine zwangsläufig doppelte Verpflichtung, ein double­bind einbindet? Der Befehl, die Weisung, die an uns ergehen, teilen uns, sie lassen uns immer schuldig werden, weil sie das »Man solle oder »Man muß« verdoppeln: Man soll oder man muß zu Hütern einer bestimmten Vorstellung von Europa werden, einer Differenz Europas, doch eines Europas, das gerade darin besteht, daß es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und daß es sich beispielhaft auf jenes zubewegt, was nicht es selber ist, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps ­ vielleicht ist das andere des Kaps etwas ganz anderes, das 25 Jenseits der modernen Tradition, eine andere Struktur des Randes, ein anderes Ufer. Daß man treu für dieses Gedächtnis einsteht und folglich auf die doppelte Weisung peinlich genau antwortet ­ heißt das, daß man etwas wiederholt oder daß man mit etwas bricht, daß man etwas fortsetzt oder daß man gegen etwas opponiert? Oder sollte es den Versuch bedeuten, eine an­ dere Geste zu erfinden, eine lange Handlung, die das Ge­ dächtnis voraussetzt, gerade um die Identität von der Alte­ ritat her zu bestimmen, vom anderen Kap und vom anderen des Kaps, von einem ganz anderen Rand und Ufer aus? Eine solche Hypothese, an der ich mich vor allem aus­ richten möchte, ist nicht einfach eine Hypothese oder ein Anruf, ein Ruf, der zu dem aufruft, was sich zugleich als widersprüchlich und unmöglich darstellt. Ich glaube viel­ mehr, daß sich das, was damit gemeint ist, jetzt ereignet. (Man muß daher auch beginnen, dieses »jetzt« so zu den­ ken, daß es weder gegenwärtig noch aktuell ist und nicht die Gegenwart einer Aktualität hat.) Es soll nicht behauptet werden, daß es ankommend statthat oder daß es schon an­ gekommen ist und sich ereignet hat, daß es als gegen_wärtig Gegebenes vorliegt. Dieses Ereignis ereignet sich vielmehr, wie ich glaube, als das, was heute in Europa im Kommen bleibt, was heute in Europa noch auf der Suche nach sich selbst ist und sich verspricht oder als Versprechen ankün­ digt. Das Heute, die Gegenwart dieses Europa ist die eines Europa ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen, ja ohne festgelegten Namen: Europa fungiert an dieser Stelle nur als paleonymische Bezeichnung. Wenn es heute ein Ereignis gibt, so glaube ich, daß es gerade dort statthat, wo der Akt der Erinnerung eine bestimmte Ordnung des Kapitals ver­ rät, um den anderen Kap oder dem anderen des Kaps die Treue zu halten. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, für den das Wort »Krise«> im Sinne einer Krise Europas oder einer Krise des Geistes ­ vielleicht nicht mehr angemessen ist. 26 Das Bewußtwerden, die Besinnung, durch die man, zu sich kommend, den eigenen »Sinn« oder Verstand wieder­ findet, die Selbstbesinnung", die darin besteht, daß man die kulturelle Identität Europas als einen kapitalen Diskurs be­ greift ­dieser Augenblick des Erwachens ist in der Tradition der Modeme stets im Augenblick der sogenannten Krise und als Augenblick der Krise zur Entfaltung gelangt. Dieser Augenblick wiederum ist der Augenblick der Entscheidung, des lerlnein; er ist der dramatische Moment der noch un­ möglichen und in der Schwebe gehaltenen, unmittelbar be­ vorstehenden und bedrohlichen Entscheidung. Krise Euro­ pas als Krise des Geistes, sagen sie alle in dem Augenblick, da sich die Grenzen und die Umrisse, das eidos, das Ende und der äußerste Rand, die Endlichkeit Europas abzeich­ nen; sie sagen es also in dem Augenblick, da das Kapital an Unendlichkeit und Allgemeinheit, das im Idiom dieser Grenzen sich aufbewahrt, angetastet wird und in Gefahr gerät. Bald werden wir uns fragen müssen, was heute das Be­ drohliche ausmacht. Der kritische Augenblick hat mehrere Gestalten, die alle, trotz der zuweilen bedeutsamen und ge­ wichtigen Unterschiede, spezifische Formen einer grund­ sätzlich analogen »Logik« sind. Eine dieser Gestalten war die Hegelsche Philosophie: Der europäische Geist stimmt darin mit der Rückkehr des Geistes zu sich selbst überein; der Geist kehrt im absoluten Wissen zu sich zurück, an jenem »Ende­der­Geschichte«, das heute zu geschwätziger Beredsamkeit Anlaß geben kann. Als Beispiel [ich erinnere daran, daß dies vor dem sogenannten Golfkrieg gesagt und geschrieben wurde: ist der Golf ein Kap, ist er das Kehrbild oder das andere des Kaps?] sei die Rhetorik eines Beraters des Weißen Hauses angeführt, der mit großer Medien­Re­ sonanz das »Ende der Geschichte­ ankündigt." Will man * Jacques Derrida spielt hier auf Francis Fukuyama an und dessen Ende der Geschichte (dr, Stuttgart 1992). (A.d. Ü.) diesem Berater Glauben schenken, so geht das Ende der Geschichte darauf zurück, daß das wesentlich europäische Modell der Marktwirtschaft und der liberalen, parlamenta­ rischen und kapitalistischen Demokratien im Begriff ist, sich in ein allgemein anerkanntes Modell zu verwandeln: Alle Nationalstaaten der Erde beeilen sich, uns, die Spitzen­ mannschaft, einzuholen, um so in nächste Nähe zum Kap zu gelangen, in nächste Nähe zu der kapitalen Spitze der fortgeschrittenen Demokratien, dorthin, wo das Kapital sich an der Spitze des Fortschritts befindet. Eine andere Gestalt des kritischen Augenblicks war die ­Krise der europäischen Wissenschaften« oder die »Krise der europäischen Menschheit«, von denen Husserl gespro­ chen hat: Die Teleologie, die bestimmend ist für die Ge­ schichtsanalyse und auch für die Geschichte dieser Krise, dieser Verdeckung des transzendentalen Motivs, die mit und seit Descartes stattgefunden hat, richtet sich an der Idee einer transzendentalen Gemeinschaft aus, an der Subjekti­ vität eines »Wir«, das den Namen Europa trägt und dessen beispielhafte Gestalt Europa sein soll. Bereits im Ursprung, dort, wo die Philosophie entspringt, soll diese transzenden­ tale Teleologie die Richtung gewiesen haben. Zum gleichen Zeitpunkt (r935­36: welch ein Zeitpunktl) hat Heidegger seinen Diskurs, der die Entmachtung" des Geistes beklagt, entfaltet. Die Ohnmacht, das Ohnmäch­ tig­Werden des Geistes, das, was ihm gewaltsam seine Macht raubt, ist nichts anderes als die Entmachtung des europäischen Westens. Während er sich einerseits dem tran­ szendentalen Sub­Objektivismus widersetzt ­ und folglich der cartesianisch­husserlschen Tradition als dessen Sym­ ptom ­, fordert Heidegger andererseits dazu auf, die we­ sentliche Gefahr als Gefahr des Geistes zu denken. Der Geist aber ist die Sache des europäischen Westens, um die es in der von der Zange eingeklemmten Mitte geht, in der Mute" Europas, zwischen Rußland und Amerika.4 28 Wiederum zum gleichen Zeitpunkt ­ ich meine den Zeit­ raum zwischen den beiden Weltkriegen, also die Jahre 1919 bis 1939 ­ definiert Valery die Krise des Geistes als Krise Europas, als Krise der europäischen Identität, genauer noch: als Krise der europäischen Kultur. Da mir heute die Konfiguration, die Kap und Kapital bilden, die Richtung anzeigt, verweile ich etwas bei Valery: dies aus mehreren Gründen, die alle mit der kapitalen Spitze, mit dem Punkt, dem Ort oder der Stelle, die das Kapital markiert, zusam­ menhängen. Valery ist ein mediterraner Geist. Was genau benennen wir, wenn wir von diesem großen See genannt Mittelmeer sprechen? Wie alle Namen, von denen die Rede ist, wie Na­ men im allgemeinen, bezeichnet auch dieser eine ­ nega­ tive ­ Grenze und eine Chance; vielleicht besteht die Verantwortung darin, daß man aus dem erinnerten Namen, aus dem Gedächtnis des Namens, aus der idiomatischen Grenze, eine Chance, das heißt eine Öffnung der Identität hin zu ihrer eigenen Zukunft macht. Daß Valerys gesamtes Werk das eines Europäers des griechisch­römischen Mittel­ meerraums ist, eines Europäers, der aufgrund seines Ge­ burts­ und Todesortes Italien nahe war, hebe ich auch deshalb hervor, weil wir heute hier in Turin sind, einem lateinischen Ort des nördlichen Mittelmeerraums. Ich selbst komme, wie Sie wissen, von der anderen Seite, ja vom anderen Kap, von einem Küstenstrich, der im wesentlichen weder französisch noch europäisch und auch nicht latei­ nisch oder christlich ist; doch diese Seite des Mittelmeers interessiert mich noch aus einem weiteren Grund, der mit dem Wort kapital in Zusammenhang steht. Das Wort kapi­ tal führt mich langsam auf den Weg zu jenem Punkt meines Vorhabens, der sich als besonders schwankend und bebend erweist, den Entschiedenheit und Unentschiedenheit tei­ len. Das Wort kapital kapitalisiert nämlich im idiomatischen 29 Korpus ­ und in ein und demselben Körper, wenn ich so sagen darf ­ zwei Arten, zwei Gattungen von Fragen. Ge­ nauer: es kapitalisiert eine Frage, die zwei Geschlechter hat. r , Zunächst stellt sich die Frage im Femininum: Frage nach der Kapitale (ein anderes Wort für Hauptstadt). Wir können diese Frage heute sicherlich nicht umgehen. Hat eine Kapi­ tale der europäischen Kultur heute einen Ort, gibt es einen Ort für sie? Läßt sich im Herzen Europas ein zumindest symbolisches Zentrum ausmachen, im Herzen eines Euro­ pas, das sich lange Zeit für die Kapitale der Menschheit und des Planeten gehalten hat, und das heute, wie manche an­ nehmen, nur deshalb diese Rolle aufgibt, weil die Fabel einer Ausdehnung des europäischen Modells auf den ge­ samten Planeten glaubwürdiger denn je zu sein scheint? So gestellt, mag die Frage gewaltsam und veraltet anmuten. Es wird natürlich keine offizielle Kapitale der europäischen Kultur geben. Niemand denkt an etwas Derartiges, nie­ mand würde sich mit ihr abfinden. Das bedeutet jedoch nicht schon, daß die Frage nach der Hauptstadt einfach ver­ schwindet. Sie verweist auf den Kampf um die kult~relle Hegemonie. Ein manchmal lautloser, aber trotzdem wilder Wettbewerb ist bereits im Gang. Schauplatz dieses Kon­ kurrenzkampfes ist die festverankerte Macht traditionell vorherrschender Idiome und gewisser Kulturindustrien; er findet dort statt, wo neue Medien ­ Zeitungen und Verla­ ge ­ auf ungeheure Weise expandieren; er wird an Universi­ täten ausgetragen, zwischen technisch­wissenschaftlichen Machtinstanzen, kreist um neue »kapillare« Kommunika­ tionswege. Diese Konkurrenz vollzieht sich in bisher un­ bekannten Formen und unter rasch wandelnden Bedin­ gungen; die vereinheitlichenden Anstöße, die dabei ihre Wirkungen zeitigen, gehen nicht immer vom Staat aus (man darf sogar die leise Hoffnung hegen, daß in manchen Fällen 30 die alten staatlichen Gebilde uns beim Kampf gegen private und supranationale Großunternehmen unterstützen). Be­ denken wir die Neuheit dieser Formen kultureller Beherr­ schung wie jene geographisch­politischen Felder, die sich seit der Perestroika und der Zerstörung der Berliner Mauer, im Zuge der sogenannten Demokratisierungsbewegungen, die gemeinsam mit anderen mehr oder weniger virtuellen Strömungen Europa durchqueren, vor einem begehrenden Blick ausbreiten: Die Frage der Kapitale, also des vorherr­ schenden Mittelpunkts, stellt sich unter diesen Auspizien aufs neue. Daß dieses Zentrum nicht mehr die Stabilität der traditionellen Metropole aufweisen kann, zwingt uns, zur Kenntnis zu nehmen, was heute der Stadt widerfährt. Doch damit ist nicht schon gesagt, daß die Kapitale überhaupt ihren Referenzcharakter einbüßt. Vielmehr muß man für diesen Referenzcharakter eine andere Übertragung und ei­ nen neuen Ort finden: innerhalb einer Problematik näm­ lich, die von den technisch­wissenschaftlich­wirtschaft­ lichen Gegebenheiten wesentlich verändert worden ist; diese Gegebenheiten betreffen unter anderem auch die Her­ vorbringung, die Vermittlung, die Struktur und die Wir­ kungen der Diskurse, mit denen man die fragliche Proble­ matik in ihren Grundzügen zu umreißen sucht; sie betreffen die Gestalt derer, die solche Diskurse in der Öffentlichkeit halten, sie betreffen also uns selbst und jene, die man vor­ dem sorglos Intellektuelle nannte. Erste Spannung, erster Widerspruch, doppelte Anwei­ sung: Auf der einen Seite kann sich die kulturelle Identität Europas nicht zersplittern und zerstreuen (wenn ich sage, daß sie dies nicht kann, so meine ich auch, daß sie es nicht darf­dieser doppelte Modus führt mitten in das Problem). Sie kann und sie darf sich nicht einer Zerstreuung überant­ worten, die eine Unzahl nichtiger Provinzen hervorbringt, eine Vielzahl fest verorteter Idiome und eine Reihe klein­ licher Nationalismen, die, von Eifersucht erfüllt, sich nicht 3r ineinander überführen, wechselseitig übersetzen lassen. Sie kann und sie darf nicht auf die Schauplätze des großen Ver­ kehrs, auf die breiten Bahnen der Übertragung und der Kommunikation, auf die Durchdringung durch die Medien verzichten. Auf der anderen Seite indes kann und darf sie nicht die Kapitale einer vereinheitlichenden Autorität hin­ nehmen, die durch transeuropäische Kulturapparate, durch Zusammenschlüsse im Verlags­, Presse­ und Universitäts­ wesen ­ gleichviel ob auf staatlicher Ebene oder nicht ­ Kontrolle ausübt und Gleichförmigkeit herstellt: indem sie die Diskurse und die künstlerische Praxis dem Raster der Verständlichkeit unterwirft, sie philosophischen und ästhe­ tischen Normen unterstellt, sie unmittelbar wirksamen Kommunikationskanälen wie dem Diktat der ermittelten Einschaltquoten und der wirtschaftlichen Rentabilität aus­ setzt. Durch eine solche Normierung ließe sich, indem man unter Anwendung beweglicher, überall gegenwärtiger, grenzüberschreitender und von extremer Übertragungs­ schnelligkeit geprägter Mediennetze Stätten müheloser Übereinstimmung schafft, Stätten der Demagogie und der »Verkauflichkeit«, an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt eine kulturelle Kapitale einrichten, ein vorherrschendes Zentrum, Medienzentrale des neuen Imperiums: Remote control ­ wie man die Fernbedienung des Fernsehens im Englischen nennt ­, fernbediente, beinahe unmittelbare und absolute Allgegenwart. Künftig muß man die kulturelle Kapitale nicht mehr mit einer Metropole, mit einer geogra­ phisch­politischen Gegend oder Stadt in Zusammenhang bringen; die Frage nach der Kapitale bleibt als solche den­ noch erhalten. Sie drängt sich um so stärker auf, als sich ihre »Politik« (die vielleicht keine Politik mehr ist und die folg­ lich diesen Namen nicht länger verdient) weder mit der polis ­ Stadt, Stadtstaat, Stadtburg, Stadtviertel ­ noch mit dem überlieferten Begriff der politeia und der res publiu verbinden läßt. Wir bewegen uns hier womöglich auf einem 32 Gebiet, dringen vielleicht in eine Topologie ein, die man nicht als politisch und auch nicht als unpolitisch bezeichnen kann; bezeichnen wir sie ­ um uns mit aller gebotenen Vor­ sicht eines alten Wortes für neue Begriffe zu bedienen ­ als »quasi­politisch«. Damit zitieren wir quasi Valery, der den allgemeinen Titel »Quasi politische Essays« für mehrere Texte wählte, die sich mit der Krise des Geistes als einer europäischen Krise auseinandersetzen. Weder Monopol noch Zerstreuung oder Zersplitterung ­ so lautet also die erste Konsequenz. Es handelt sich dabei natürlich um eine Aporie, ein Umstand, den wir uns nicht verheimlichen dürfen. Ich wage es, Sie zu dem Gedanken anzuregen, daß die Moral, die Politik, die Verantwortung ­ wenn es sie denn gibt­ erst mit dieser Erfahrung der Aporie anheben. Hat man einmal einen Zugang gefunden, weist das Wissen den Weg im voraus, so ist die Entscheidung bereits getroffen worden. Mit anderen Worten: Es gibt dann keine Entscheidung mehr, die man noch treffen müßte: indem man ein festgesetztes Programm anwendet, verhält man sich unverantwortlich und läßt sich vom guten Gewissen beruhi­ gen. Dagegen kann man den Einwand vorbringen, daß man sich vielleicht nie dem Programm entzieht. In diesem Fall gilt es aber, diese Unmöglichkeit einzugestehen, statt wei­ terhin autoritativ von moralischer oder politischer Verant­ wortung zu reden. Die Möglichkeitsbedingung dieser Sa­ che, der Verantwortung, ist eine bestimmte Erfahrung der Möglichkeit des Unmöglichen: Sie ist die Probe, der uns die Aporie unterzieht, die Erfahrung der Aporie, von der aus man die einzig mögliche Erfindung erfinden kann, die un­ mögliche Erfindung.5 Die Aporie nimmt an dieser Stelle die logische Gestalt des Widerspruchs an. Dieser Widerspruch wiegt um so schwe­ rer, als sich die Beschleunigung der sogenannten »Demo­ ,kratisierungsbewegungen« in hohem Maße den neuen Kräf­ ten der Medientechnik verdankt, dem durchdringenden, 33 schnellen und unwiderstehlichen Verkehr der Bilder, Ideen und ­ wie man sagt ­ Modelle; sie verdankt sich der äußerst kapillaren Verfassung der Diskurse. Die kapillare Verfas­ sung, die »Kapillaritat«: Es ist nicht an den Haaren herbei­ gezogen, wenn man in diesem Ausdruck die Bahnen aus­ macht, die uns im Augenblick interessieren, genau an diesem Punkt, an dieser Spitze, wo deren Feinheit eine mi­ kroskopische Form aufweist; es geht hier um eine Kommu­ nikation, die, verkabelt und zielgerichtet, in größter Nähe zu Haupt und Oberhaupt, alles sogleich erreicht und sich überall verbreitet. Ein derartiges kapillares System über­ quert nicht allein die nationalen Grenzen. Wie wir wissen, sind totalitäre Regime außerstande, wirksam gegen ein in­ neres Telephonnetz zu kämpfen, sobald dessen Dichte eine gewisse Schwelle überschreitet; es entzieht sich dann der Kontrolle. Keine »rnoderne« Gesellschaft (Modernsein ist für den Totalitarismus ein Gebot) kann lange Zeit darauf verzichten, mit der Entwicklung der technisch­wirtschaft­ lich­wissenschaftlichen Leistungen des Telephons fortzu­ fahren ­ und also die Erweiterung jener »dernokratischen« Durchgangsstätten zu betreiben, die geeignet sind, ihre ei­ gene Zerstörung herbeizuführen. Für den Totalitarismus verwandelt sich das Telephon so in die unsichtbare Andeu­ tung und in die gebieterische Anordnung seines Zusam­ menbruchs. Das Telephon verhindert die Festlegung einer Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten; vor­ ausgesetzt, eine solche scharfe Grenze hat sich je ziehen lassen. Es leitet die Bildung einer öffentlichen Meinung dort ein, wo diese nicht mit den üblichen Bedingungen der Öf­ fentlichkeit rechnen kann: mit einer gedruckten Presse oder mündlich vermittelten Nachrichten, mit einem wie immer auch verfaßten Verlagswesen. Kurzum: Die Telephonlei­ tungen ­ und bald auch das Visiophon ­ können von den großen Kommunikationskanälen nicht getrennt werden, vom Fernsehen oder von den Fernschreibern; wenn diese 34 Medienzugänge im Namen der freien Diskussion eröffnet werden, der freien Diskussion, die einen Konsens herbei­ führen soll; wenn sie eröffnet werden im Namen der tradi­ tionellen Demokratie, kann es nicht darum gehen, sich gegen sie zu kehren und ihnen den Kampf anzusagen. Es wäre undemokratisch, wollte man hier aufteilen, an den Rand drängen, abschotten, verbieten, unterbrechen. Wer sich um die kulturelle Identität Europas Gedanken macht, dem erscheint freilich auch an diesem Punkt die An­ weisung, der er zu folgen hat, als eine doppelte und wider­ sprüchliche: Muß man wachsam darauf achten, daß keine vereinheitlichende Hegemonie (keine Kapitale) wieder ent­ steht, so darf man doch auch umgekehrt die Grenzen, das heißt die Ränder und die Randgebiete, nicht vervielfachen; dann dürfen die Unterschiede zwischen den Minderheiten, die unübersetzbaren Idiolekte, die nationalen Antagonis­ men, der Chauvinismus idiomatischer Wendungen nicht um ihrer selbst willen kultiviert werden. Die Verantwor­ tung scheint heute darauf hinauszulaufen, daß man auf keinen der beiden widersprüchlichen Imperative verzichtet. Man muß demnach versuchen, politisch­institutionelle Ge­ sten, Diskurse und Praktiken zu erfinden, die das Bündnis zwischen diesen beiden Imperativen, zwischen diesen bei­ den Versprechen, zwischen diesen beiden Verträgen markie­ ren: das Bündnis zwischen der Kapitale und der A­Kapitale, dem anderen der Hauptstadt. Dies erweist sich als schwie­ rig. Es ist sogar unmöglich, eine Verantwortung zu konzi­ pieren, die darin besteht, sich gegenüber zwei Gesetzen oder zwei widersprüchlichen Anweisungen verantwor­ tungsvoll zu verhalten. Gewiß ­ doch gibt es andererseits keine Verantwortung, die nicht eine Erfahrung des Unmög­ lichen ist. Wir haben gerade darauf aufmerksam gemacht, daß eine Verantwortung, die sich im Bereich des Möglichen bewährt, einer vorgegebenen Neigungsfläche folgt und ein Programm abwickelt. Eine solche Verantwortung verwan­ 35 delt die Handlung in die Folge eines angewandten Wissens, in die bloße Anwendung eines Wissens oder einer Technik; sie verwandelt Moral und Politik in Technologien. Sie hängt nicht mehr von der praktischen Vernunft ab, sie hat nichts mehr mit einer Entscheidung zu tun; sie beginnt, unverant­ wortlich zu sein. Unsere Argumentation verkürzend, könnten wir behaupten, daß die Identität Europas (wie die Identität und die Identifikation überhaupt) zu dieser Erfah­ rung des Unmöglichen gehört, daß sie zu dieser Erfahrung gehören sollte und müßte, wenn sie denn gleichermaßen sich selbst und dem anderen genügen soll, im Sinne ihres eigenen maßlosen »Mit­sich­­Differierens. freilich bleibt die Frage immer noch berechtigt: Wie denn eine Moral oder eine Politik aussehen sollte, die Verantwortung einzig an der Regel des Unmöglichen mißt, so, als würde man den Be­ reich des Ethischen und der Politik verlassen, begnügte man sich damit, das Mögliche zu tun ­ so, als müßte man sich, um wahrhaft Verantwortung zu tragen, darauf beschrän­ ken, unmögliche, undurchführbare, unanwendbare Ent­ scheidungen zu treffen. Wenn die beiden Seiten dieser Alternative von einem unlösbaren Widerspruch und gleich­ zeitig von dem größten Ernst zeugen, reflektiert oder kapi­ talisiert sich die Aporie in einer abgründigen Unend­ lichkeit; mehr denn je zwingt sie uns dann dazu, jenes, was sich hier in der rätselhaften Gestalt des »Möglichen« (der ­ unmöglichen ­ Möglichkeit des Unmöglichen usw.) ankün­ digt, anders zu denken oder endlich dem Denken aufzu­ schließen. Wir bewegen uns in diese Richtung (vorausgesetzt, man kann sie noch angeben und identifizieren), wenn wir uns fragen, mit welchen neuen Begriffen und aufgrund welcher anderen Topologie sich die Frage nach dem Ort einer Kapi­ tale der europäischen Kultur stellt: die Frage nach einem zumindest symbolischen Ort, der weder strikt politisch ist (gebunden an die Errichtung einer staatlichen oder parla­ mentarischen Institution) noch ein Zentrum wirtschaftlich­ administrativer Entscheidungen. Ein solcher Ort dürfte nicht einfach eine Stadt sein, die ihrer geographischen Lage wegen, wegen der Größe ihres Flughafens oder den Unter­ kunftsmöglichkeiten, welche die Infrastruktur ihres Hotel­ wesens einem europäischen Parlament bietet, gewählt wird (ich denke dabei an den bekannten Wettstreit zwischen Brüssel und Straßburg). Auf unmittelbare oder mittelbare Weise betrifft die Hypothese einer solchen Kapitale stets die Sprache: Sie betrifft nicht nur das Vorherrschen einer Natio­ nalsprache oder eines Idioms, sondern ebenfalls das Vor­ herrschen eines Begriffs der (gesprochenen) Sprache, eine Idee des Idioms, das man verwendet. Wir wollen an dieser Stelle keine Beispiele anführen, nur eine ganz allgemeine Erwägung zur Geltung bringen: In diesem Kampf um die Kontrolle der Kultur, im Rahmen jener Strategie, die die kulturelle Identität einer Kapitale zuzuordnen versucht (einer Kapitale, die um so mächtiger ist, je beweglicher sie bleibt, und die in einem hyper­ oder supranationalen Sinne europäisch genannt zu werden ver­ dient), wird die nationale Hegemonie niemals (heute folg­ lich ebensowenig wie je zuvor) im Namen einer empirischen Überlegenheit, das heißt einer bloßen Partikularität gefor­ dert. Darin liegt auch der Grund dafür, daß der Nationalis­ mus oder die nationale Behauptung ­ wesentlich moderne Phänomene ­ Philosopheme sind. Die nationale Hegemo­ nie präsentiert sich, beansprucht ihr Recht, legitimiert sich im Namen eines Privilegs, das ihr dort zukommt, wo es um die Verantwortung gegenüber dem Allgemeinen, dem Über­, ja Transnationalen und um dessen Gedächtnis geht ­ dort letztlich, wo das Transzendentale und das Ontologi­ sche auf dem Spiel stehen. Das logische Schema dieses Arguments, der Nerv dieser nationalen Selbstbehauptung, die Kernaussage des nationalen »Ich« oder des nationalen »Subjekts« läßt sich kurz und bündig so formulieren: »Je 37 mehr ich (wir) an eine Nation gebunden bin (sind), desto europäischer bin ich (sind wir); je europäischer ich bin (wir sind), desto mehr bin ich (sind wir) transeuropäisch und international; keiner ist ein solcher Kosmopolit, keiner ist so wahrhaft weltmännisch wie der (wie jenes >Wir<), der (das) hier spricht.« Der Nationalismus und der Kosmopoli­ tismus haben sich immer gut vertragen, so paradox das auch anmuten mag; seit Fichte bezeugen dies zahlreiche Bei­ spiele. Folgt man der Logik eines derartigen »kapitalischen« und kosmopolitischen Diskurses, so besteht das Eigentüm­ liche einer bestimmten Nation oder eines bestimmten Idioms darin, ein Kap für Europa darzustellen. Analog dazu ist es Europa eigentümlich, wie ein Kap des allgemei­ nen menschlichen Wesens sich vorzuschieben, vorzurük­ ken. Vorrücken ­s' avancer: so lautet das gesuchte Wort, das fast alle Formen und Gestalten, die wir hier beschreiben, in sich vereint, kapitalisiert. S'avancer bedeutet einmal, daß man sich präsentiert, eintritt, sich einführt, sich zeigt, sich darstellt, sich identifiziert und sich mit Namen vorstellt. Es meint jedoch auch, daß man nach vorne drängt, vor sich blickend (s­Europa blickt naturgemäß gen Westen«); es be­ deutet, daß man vorwegnimmt, vorausgeht, sich in das Meer oder das Abenteuer stürzt, daß man vorauseilt und dabei die Initiative ergreift, zuweilen auf offensive Art und Weise. Man geht Risiken ein, man läßt sich ein und über­ schätzt die eigenen Kräfte, man stellt Hypothesen auf und wittert dort etwas, wo man nichts sehen kann (die Nase, das Kap, Cyranos Halbinsel). Europa hält sich für einen Fort­ schritt oder einen Vor­stoß, als solches rückt es vor: Es hält sich für die Vorhut der Geographie und der Geschichte. Es tritt hervor wie ein Vorsprung; dem anderen ist es unent­ wegt entgegengekommen, unentwegt hat es ihm Avancen gemacht: um hervorzuholen und hervorzubringen, um zu verführen und zu lenken, um sich auszubreiten und zu kul­ tivieren, um zu lieben und zu vergewaltigen ­ das Vergewal­ tigen liebend­, um zu kolonisieren und selber besiedelt zu werden. Da ich nun einmal französisch spreche und da ich kein inter­nationales polemos entfachen oder anstiften möchte, beziehe ich mich jetzt auf das, was alle Mehrheitsgruppie­ rungen in der französischen Republik sagen. Ausnahmslos beanspruchen sie für Frankreich, also für Paris6, für die Ka­ pitale aller Revolutionen und für das heutige Paris, die Rolle einer Vorhut ­ etwa im Zusammenhang mit der Idee einer freien Kultur: einer Kultur, die auf einer bestimmten Vor­ stellung der Menschenrechte, ja des internationalen Rechts beruht. Was immer die Engländer heute auch behaupten mögen: Die Franzosen sollen die Menschenrechte erfunden haben, zu denen die »Denkjreibeit« gehört, die ­ ich zitiere wiederum Valery »im gewöhnlichen Gebrauch« des Wor­ tes »Freibeit, zu veröffentlichen oder Lehrfreiheit« bedeu­ > tet,? Ich spiele hier zum Beispiel auf ein offizielles Papier des Außenministeriums an (Staatssekretariat für internationale kulturelle Beziehungen). Dieser Text, der durchaus hoch einzuschätzen ist, definiert auf kompetente und überzeu­ gende Weise den sogenannten »europäischen Kulturauf­ bau«. Als Motto ist ihm ein Satz aus den Akten des »Kongresses des europäischen Kulturraums« (Stuttgart, 18. Juni 1988) vorangestellt, der die thematischen Motive der Eroberung, der Durchsetzung und des Geistes ver­ knüpft (»Esprit« ist übrigens­wie »Brite« und »Race« [ein englischer Ausdruck, der auch Wettrennen oder Konkur­ renz bedeutet] ­ der Eigenname eines Programms für tech­ nologische Entwicklung, das die europäische Gemeinschaft aufgestellt hat). Ich hebe in dem fraglichen Satz jene Motive hervor: »Es gibt kein politisches Streben, dem nicht eine Eroberung der Geister vorausgeht: es ist die Aufgabe der Kultur, das Gefühl einer europäischen Einheit und Solidari­ tät durcbzusetzen,« Auf der folgenden Seite wird die »ent­ 39 scheidende Rolle« unterstrichen, die Frankreich bei der »kollektiven Bewußtwerdung« spielt. Das Papier des Au­ ßenministeriums enthält ein weiteres Motto: Zitiert wird aus einer ministeriellen Vorlage, worin steht, die »Iranzösi­ sehe Kultur« wirke in der Weise, daß sie »die anderen lehrt, Frankreich als ein schöpferisches Land zu betrachten, das die Modeme zu gestalten hilft«. Weiter heißt es (ich lenke den Blick auf den Wortschatz der Antwort, der Verantwor­ tung und des heutigen Tags), daß »sie [die französische Kultur, Frankreich] den heutigen Tag, die unmittelbare Ge­ genwart verantwortet« und daß man von ihr genau das erwartet. Die kulturelle Identität Frankreichs wäre dem­ nach für das europäische (und also trans­ und außereuropäi­ sche) Heute verantwortlich. Einzustehen hätte sie am Ende für die ganze Welt: für die Menschenrechte ebenso wie für das internationale Recht. Damit wird ­ in logischer Schluß­ folgerung ­ gesagt, daß es Frankreich erstrangig zukommt, das Auseinanderklaffen zwischen dem Prinzip oder Grund dieser Rechte (deren neuerliche Bekräftigung bedingungs­ los sein muß, ja nur bedingungslos sein kann) und den konkreten Bedingungen ihrer Anwendung anzuprangern. Frankreich obliegt es aufzuzeigen, welche Begrenzungen sie bei ihrer Darstellung erfahren, sowie die Verdrehungen und die Ungleichheit aufzudecken, die dort vorkommen und vorherrschen, wo ihre Anwendung von bestehenden Inter­ essen, Monopolen und Hegemonien abhängig ist. Immer ist diese Aufgabe dringlich und zugleich unendlich. Man ver­ fährt hier stets ungleich, allerdings läßt sich diese Ungleich­ heit oder Unangemessenheit auf vielfältige Weise bestim­ men, deuten und »in den Griff bekommen«: genau darin besteht Politik, immer besteht darin Politik heute. Frank­ reich weist sich also eine solche beispielhafte Aufgabe zu, am Anfang des zitierten Diskurses (»[Frankreich] verant­ wortet den heutigen Tag, die unmittelbare Gegenwart; und genau das wird von Frankreich erwartet«), Die Identität soll sich durch die Verantwortung, in ihr bilden, das heißt ­ wir kommen noch darauf zurück ­ im Zuge einer gewissen Er­ fahrung der Antwort, die an dieser Stelle das Rätselhafte ist. Was heißt »anrworten«? Antworten auf? Verantworten? Einstehen für? Sich verantworten vor? Der Text, den wir lesen, erinnert uns auch daran, daß Frankreich »seine Avantgardestellung bewahren muß«. Avantgarde, Vorhut, Spitze: ein immer wieder »großarti­ ges« Wort, egal ob mit oder ohne den strategisch­militäri­ schen Bedeutungszusammenhang (promos) von Geschossen und Raketen; es kapitalisiert die Buggestalt, die Gestalt ei­ nes Bugs, einer phallischen Spitze, die wie ein Schnabel oder eine Feder hervorsticht ­ es kapitalisiert die Form des Kaps und die der Hut oder des Gedächtnisses; es fügt den Sinn einer fortschrittlichen Initiative dem der Sammlung hinzu: Verantwortung des Hüters, Berufung oder Bestimmung der Erinnerung, die es auf sich nimmt, voranzugehen ­ vor al­ lem wenn es sich im voraus darum handelt, zu hüten und vorwegzunehmen, um, wie der offizielle Text besagt, eine »Avantgardestellung« zu »wahren«; vor allem also, wenn es darum geht, sich selber als Vorhut zu erhalten, als Vorhut, die vorrückt, um zu wahren, was ihr zukommt und ihr auf­ getragen ist, nämlich sich vorzuwagen, um zu bewahren, was ihr wiederum zukommt, die »Avantgardestellung«. Wir haben es hier mit Staatsverlautbarungen zu tun, doch darf die Wachsamkeit sich nicht auf solche Diskurse be­ schränken. Noch die wohlmeinendsten europäischen Pro­ jekte, dem Anschein nach und auch ausdrücklich plurali­ stisch, demokratisch und tolerant ausgerichtet, können in diesem schönen Wettkampf um die ­Eroberung der Gei­ ster« versucht sein, die Homogenität eines Mediums und diskursiver Modelle, die Homogenität von Diskussionsnor­ men durchzusetzen. Zeitungs­ und Zeitschriftenkonzerne, mächtige europäi­ sche Verlagshäuser können sich dabei als ausschlaggebend 41 erweisen. Projekte der angesprochenen Art florieren zur Zeit; wir können dies begrüßen, vorausgesetzt, daß unsere Aufmerksamkeit nicht nachläßt. Wir müssen lernen, die neuen Formen kultureller Macht ausfindig zu machen, um ihnen besser zu widerstehen. Die Auferlegung eines homo­ genen Mediums kann sich freilich auch in dem neuartigen Rahmen, in dem Universitäten stehen, ereignen, besonders unter Mitwirkung eines philosophischen Diskurses. Unter dem Vorwand eines Plädoyers für die Transparenz (»Trans­ parenz« und »Konsens« sind zwei Schlüsselbegriffe des gerade erwähnten »kulturellen« Diskurses), für die Eindeu­ tigkeit der demokratischen Diskussion, für die öffentliche Kommunikation, für das »komrnunikative Handeln«, zielt ein derartiger Diskurs auf die Durchsetzung eines Sprach­ modells, das dieser Kommunikation angeblich dient. Indem er den Anspruch erhebt, im Namen der Intelligibilität, des Gemeinsinns, des gesunden Menschenverstandes oder der demokratischen Moral zu reden, bringt dieser Diskurs ten­ denziell und gleichsam naturwüchsig alles in Verruf, was das betreffende Modell komplexer erscheinen läßt; verdächtigt und unterdrückt er tendenziell, was in Theorie und Praxis die von ihm vertretene Idee der Sprache verwickelt, überde­ terminiert oder gar in Frage stellt. Unter anderem aus Sorge um solche Formen der Verdächtigung und der Unterdrük­ kung wären bestimmte rhetorische Regeln zu untersuchen, die die analytische Philosophie und den in Frankfurt als »Transzendentalpragmatik« bezeichneten Diskurs beherr­ schen. Die Sprachmodelle, die diesen Regeln zugrunde lie­ gen, stellen auch institutionelle Machtfaktoren dar, die nicht auf den angelsächsischen oder den deutschen Raum beschränkt sind. Welchen Namen sie auch tragen mögen ­ sie sind in anderen Ländern und an anderen Orten ebenfalls gegenwärtig und einflußreich, selbst in Frankreich. Wir be­ wegen uns hier in einem Raum, den die Presse, das Verlags­ wesen, die Medien, die Universität, die Philosophie der 42 Universität und die an Universitäten gelehrte Philosophie gemeinsam besetzen, so, als handle es sich um ein still­ schweigend eingegangenes Bündnis. 2. Soviel zur Frage des Kaps als Frage der Kapitale. Es wird bereits deutlich, daß sie sich mit einer neuen Frage nach dem Kapital verknüpfen läßt ­ mit einer neuen Frage nach dem, was das Kapital mit dem Thema der europäischen Identität verknüpft. Erlauben Sie mir, in aller Kürze zu formulieren, woran ich dabei denke: Ich denke an die Notwendigkeit einer neuen Kultur, die eine andere Weise erfindet, das Ka­ pital (Marxens Werk und das Kapital im allgemeinen) zu lesen und zu untersuchen. Sie müßte das Kapital berück­ sichtigen, dabei die schreckliche totalitäre Dogmatik, der manche unter uns bisher widerstanden haben, gleichzeitig aber auch den Gegen­Dogmatismus vermeiden, der sich heute rechts wie links breitmacht: Eine neuartige Situation ausschlachtend, geht er so weit in seiner Prüfung, daß er das Wort »Kapital«, ja die Kritik an bestimmten Auswirkungen des Kapitals und des »Marktes« als teuflische Überbleibsel des alten Dogmatismus verbannt. Muß man demgegenüber nicht einen klaren Blick behalten und den Mut aufbringen zu einer neuen Kritik der neuen Auswirkungen des Kapitals (in bislang unbekannten technisch­sozialen Strukturen)? Handelt es sich hierbei nicht um eine Verantwortung, die uns angeht, vor allem jene unter uns, die nie einer bestimm­ ten marxistischen Einschüchterung nachgegeben haben? So wie man ­ darin liegt gerade das Problem der ethisch­politi­ schen Verantwortung ­ das Auseinanderklaffen von Recht, Moral und Politik analysieren und sich konsequent dazu verhalten muß (was freilich auch für das Auseinandertreten einer bedingungslosen Idee des Rechts [Menschenrechte, Staatsrecht] und den tatsächlichen Bedingungen der Rechts­ praxis gilt: also für das Auseinandertreten des Anspruchs, den jene regulativen Ideen erheben und der aufgrund seiner 43 Struktur zwangsläufig universalistisch ist, und dem euro­ päischen Wesen oder Ursprung dieser Rechtsidee), so muß man wohl ebenfalls wachsamen Widerstand leisten gegen die neo­kapitalistische Ausbeutung des Zusammenbruchs einer anti­kapitalistischen Dogmatik, der sich in den Staaten, die sie verkörperten, ereignet hat. Im Augenblick müssen wir uns für das Wort »Kapital«, genauer: für die inhaltliche Bestimmung seiner idiomati­ schen Züge interessieren, um die Bezugnahme auf Valery zu rechtfertigen. Wie die Vokabel »Kap«, wie die Wörter »Kul­ tur«, »Kolonie«, »Kolonisation« ­ die von colo sich herlei­ ten ­, wie das Wort »Zivilisation«, ist das Wort »Kapital« lateinischer Herkunft. Die semantische Akkumulation, auf die wir gerade hinweisen, sorgt dafür, daß die entschei­ dende, zentrale, selber kapitale Reserve eines Idioms durch Mehrdeutigkeit sich auszeichnet. Indem wir diese Sprache kenntlich machen, die Sprache, in der dieses genau hier ge­ sagt wird, im Sinne zumindest des vorherrschenden Sprach­ gebrauchs, richten wir die Aufmerksamkeit auf eine kriti­ sche Einsatzstelle: auf die Frage nach den Idiomen und der Übersetzung. Welche Philosophie der Übersetzung wird in Europa ausschlaggebend sein? In einem Europa, das von nun an sowohl die krampfhafte nationalistische Unruhe der Sprachunterschiede als auch die gewaltsame Gleichsetzung der Sprachen durch die Neutralität eines übertragenden ­ und angeblich durchsichtigen, metalinguistischen, univer­ salen ­ Mediums vermeiden sollte? Ich erinnere mich daran, daß im vergangenen Jahr an die­ sem Ort ein Name für eine große europäische Zeitschrift gewählt wurde. Durch die Ausstrahlung von fünf bereits etablierten Zeitungen sollte diese neue Zeitschrift fünf Hauptstädte der europäischen Kultur vereinigen (Turin, L'Indice; Madrid, El Pais; Paris, Le Monde; Frankfurt am Main, Frankfurter Allgemeine Zeitung; London, Times Li­ terary Supplement). Vieles wäre über die Notwendigkeit 44 von so vielen analogen Projekten zu sagen. Betrachten wir nur den für diese Zeitschrift gewählten Namen oder Titel. Es handelt sich um einen lateinischen Titel. Deutsche und Engländer waren mit ihm einverstanden. Die Zeitschrift heißt jetzt Liber (Europäische Kulturzeitschrift). Zu Recht legen die für sie verantwortlichen Redakteure großen Wert auf die reichhaltige Mehrdeutigkeit des Namens; in jeder Nummer wird die elliptische Ökonomie dieser Mehrdeu­ tigkeit ins Gedächtnis gerufen. Das Spiel ihrer Homony­ mien und Ableitungen hat in den Wortwurzeln einer lateini­ schen Erde seinen vereinigenden Zug: »I. Liber, era, erum: (gesellschaftlich) frei, freien Wesens, befreit, unabhängig, (moralisch) frei; absolut, entfesselt, uneingeschränkt. 2. Li­ ber, eri: Name des Bacchus, Wein. 3. Liber, bri: das Innere der Baumrinde, einst zum Schreiben verwendet; Schreiben, Buch, Abhandlung; Sammlung, Katalog, Zeitung, Theater­ stück.« Wenn man ernsthaft, mit berechneter Ironie sich auf das Spiel einläßt, das Gedächtnis der Sprache in dem Augen­ blick zu erinnern, in dem man die Identität der europäi­ schen Kultur wachruft; wenn man so tut, als wolle man auf solche Weise die europäische Kultur um die Freiheit, den Weinstock und das Buch scharen, erneuert man ein Bündnis und bekräftigt zugleich ein europäisch­mediterranes Idiom. Ihr Sinn für das Problem, das ich vergegenwärtigen möchte, würde sich wohl noch schärfen, wenn ich nun den Blick auf einen unübersetzbaren Gleichklang lenkte: »libere«, »libe­ re­toi, toi et les autres« (s­befreie«, »befreie dich, dich und die anderen«) ist ein Befehl in Du­Form, ein imperatives Du­Sagen, das die Gestalt eines anordnenden Perforrnati­ vums hat und das allein im Idiom »rneiner« eigenen Sprache die Homophonie hervorbringt. Das fragliche Problem be­ trifft eine unaufhebbare Spracherfahrung, jene nämlich, die sie an die Bindung bindet, an das verpflichtende Sich­Ein­ setzen oder ­Einlassen, an den Befehl oder das Versprechen: 45 Vor oder jenseits aller theoretisch­konstativen Aussagen fordert die Bejahung der Sprache, die diese Aussagen um­ fängt und einbegreift (»ich richte mich an Dich, ich lasse mich darauf ein und verpflichte mich dabei, in dieser Spra­ che, höre, wie ich in meiner Sprache spreche, Du kannst/ dann kannst Du auch in Deiner Sprache zu mir reden, wir müssen uns verständigen usw.«), jede Meta­Sprache heraus, selbst wenn sie, ja weil sie aus diesem Grund gerade meta­ sprachliche Wirkungen zeitigt. Warum heute sprechen, erst heute, und warum heute das »Heute« am Rande und im Gefolge der Überlegungen Vale­ rys nennen? Ließe sich dies in aller Strenge rechtferigen ­ woran ich zweifle ­, dann aufgrund dessen, was in einem bestimmten Text Valerys die Zeichen der Dringlichkeit trägt, genauer: das eines Herannahenden, dessen Wieder­ kehr wir zu erleben scheinen und dessen irreduzible Einzig­ artigkeit wir vor dem Hintergrund von Analogie und Ähn­ lichkeit gerade doch um so gebieterischer spüren müßten. Worin unterscheidet sich unsere Erfahrung des Heranna­ henden, heute? Und um von fernher die Analyse anzukün­ digen: Wie stellte sich damals, zu Zeiten Valerys, ein Heran­ nahendes dar, das so sehr dem unsrigen ähnelt, daß wir ihm zu Unrecht und überhastet derart viele diskursive Schemata entlehnen? La liberte de l'esprit (Die Freiheit des Geistes) wird 1939, also am Vorabend des Krieges, veröffentlicht. Valery erin­ nert an das Herannahen einer Erschütterung, eines Bebens, das nicht nur das, was man Europa nannte, in Stücke zerrei­ ßen sollte. Europa hat es auch im Namen einer Idee Europas zerstört: einer Idee des Jungen Europa, das seine Vorherr­ schaft zu sichern suchte. Indem sie den Nazismus zerschlu­ gen, der für eine begrenzte, aber entscheidende Zeit die Sowjetunion zum Verbündeten hatte, verhinderten die als »westliche Demokratien­ bezeichneten Länder eine be­ stimmte europäische Vereinigung; sie taten dies im Namen einer anderen europäischen Idee. Im Jahr 1939 entsprach das Herannahende nicht allein einer furchterregenden kul­ turellen Konfiguration Europas, die Schlag auf Schlag durch Ausschluß, Anschluß und Ausrottung entstand. Das Her­ annahende bestand ebenfalls in einem Krieg und in einem Sieg, auf den eine (Auf­)Teilung des europäischen Kultur­ raumes erfolgte, die starre Züge annahm: Dies war die Zeit, in der die Grenzen sich in beinahe natürliche Grenzen ver­ wandelten; die Intellektuellen meiner Generation haben ihr Erwachsenendasein in dieser Zeit gefristet. Der heutige Tag, der Tag, an dem die Berliner Mauer gefallen ist, an dem die Perspektive einer Vereinigung Deutschlands sich auftut, an dem eine noch wankelmütige Perestroika stattfindet, an dem ganz verschiedene »Demokratisierungsbewegungen« auftauchen und ein berechtigtes, wenn auch zuweilen äu­ ßerst zweideutiges Streben nach nationaler Souveränität be­ obachtet werden kann ­ dieser Tag bedeutet, daß das auf ungeheuerliche Weise (Auf­)Geteilte wieder durchlässig wird, daß es sich wieder öffnet und den Anschein des Na­ türlichen verliert. Heute werden wir von dem gleichen Ge­ fühl bestimmt, von dem Gefühl, daß etwas herannaht, von Gefühlen der Hoffnung und des Bedrohtseins, von der Furcht, die die Möglichkeit weiterer, in ihrer Gestalt noch unbekannter Kriege weckt, und von der Furcht vor der Rückkehr zu alten Formen des religiösen Fanatismus, des Nationalismus und des Rassismus. Die größte Ungewißheit ist dort bemerkbar, wo es um Europas Grenzen geht: um seine geographisch­politischen Grenzen (in der Mitte, im Osten und im Westen, im Norden und im Süden), um seine sogenannten »geistigen« Grenzen (sie umgeben die Idee der Philosophie, der Vernunft, des Monotheismus, des jüdi­ schen, griechischen, islamischen, des katholisch­, prote­ stantisch­, orthodox­christlichen Gedächtnisses; sie umge­ ben Jerusalem, ein entzweites und zerrissenes Jerusalem, sie umgeben Athen, Rom, Moskau, Paris ... an dieser Stelle 47 muß man »usw.« hinzufügen; zudem muß man mit ach­ tungsvoller Hartnäckigkeit jeden der angeführten Namen seinerseits auf­ oder zerteilen). La liberte de l'esprit, dieser Text des Herannahens und des Herannahenden, der sich um nichts Geringeres als um das Schicksal der europäischen Kultur dreht, enthält einen entscheidenden Rekurs auf das Wort Kapital: Valery greift darauf zurück, weil er damit gerade die Kultur­ und den Mittelmeerraum definieren möchte. Er evoziert die Schif­ fahrt, den Warentausch, jenes Schiff, das gleichzeitig »die Waren und die Götter, die Ideen und die Verfahrensweisen« mitbrachte (Valery, CEuvres II, a. a. 0., S. 1086). Valery schreibt: »So ist der Schatz entstanden, dem unsere Kultur fast alles verdankt, zumindest in seinen Ursprüngen; ich darf behaupten, daß der Mittelmeerraum eine wahre Maschine zur Herstellung von Zivilisation gewesen ist. Dies alles stiftete zwangsläufig die Freiheit des Geistes, während es gleichzeitig das Geschäftswesen schuf. Am Ufer des Mittelmeers finden wir also eng vereint: Geist, Kultur und Handel,« (Ebd.) Nachdem er das Prinzip dieser Analyse auch auf die am Rhein liegenden Städte (Basel, Straßburg, Köln) und bis zu den Häfen der Hanse ausgedehnt hat, die es als »strategische Stellungen des Geistes« zu betrachten gilt und die durch den Bund von Bankwesen, Handwerk und Druckerei gesichert sind, macht Valery sich die geordnete Mehrdeutigkeit des Wortes »Kapital« zunutze. Dieses Wort erbringt gewisser­ maßen Zinsen, es versieht das, was das Gedächtnis, die kulturelle Akkumulation und der wirtschaftliche oder treu­ händerische Wert bedeuten, mit einem Mehrwert. Valery macht sich die Rhetorik dieser Tropen zu eigen: Die ver­ schiedenen Figuren des Kapitals verweisen aufeinander, ohne daß sie sich festbinden und an das Eigentümliche eines wörtlichen Sinnes fesseln ließen. Doch schließt dieser Cha­ rakter des Nicht­Wörtlichen keineswegs die Hierarchie aus: Er läßt die gesamte semantische Reihe nicht einfach als eine horizontale Linie erscheinen. 8 Was ist an dieser semantischen oder rhetorischen Kapita­ lisierung der Bedeutungsvaleurs, die dem Wort »Kapital« zukommen, am interessantesten? Mir scheint, daß jener Punkt besonders interessant ist, an dem die regionale oder partikulare Notwendigkeit des Kapitals zur stets bedrohten Hervorbringung des Allgemeinen oder Universellen füh­ ren. Die europäische Kultur gerät in Gefahr, wenn die ideale Allgemeinheit, die Idealität des Allgemeinen als Her­ vorbringung des Kapitals bedroht wird: »Kultur und Zivilisation sind recht unbestimmte Aus­ drücke; man kann sich damit beschäftigen, sie zu unter­ scheiden, sie einander entgegenzusetzen oder sie mitein­ ander zu vereinigen. Ich werde mich damit nicht aufhalten. Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, handelt es sich für mich um ein Kapital, das entsteht, sich erhält, sich ver­ mehrt, sich verwenden läßt und zu schwinden beginnt­es verhält sich nicht anders als jedes erdenkliche Kapital über­ haupt: am bekanntesten ist wohl jenes Kapital, das wir unseren Körper nennen ... « (Valery, a. a. 0., S. ro89 ­ Hervorhebungen von Valery) »[edes erdenkliche Kapital«: Diese analogische Reihe wird erwähnt, um die Sprache des Kapitals und die Rhetorik, die sich aus ihr herleitet, zu rechtfertigen. Wenn ich nun mei­ nerseits »unseren Körper« hervorhebe=Valery weist bereits auf ihn als auf das bekannteste und vertrauteste Kapital hin, so als würde der Körper dem Kapital seinen eigentlichen und wahrhaft wörtlichen Sinn verleihen, einen Sinn, der sich, wie wir erkannt haben, in unmittelbarer Nähe zum Haupt und zum Kap verdichtet­, dann weil ich daran erin­ nern möchte, daß der Körper, als sogenannter eigener Kör­ per, als »unser Körper«, als ein geschlechtsspezifischer, vom Unterschied der Geschlechter geprägter Körper, ein 49 nicht zu umgehendes Moment unseres Problems darstellt: den Ort, an dem sich die Frage nach der Sprache, nach dem Idiom und nach dem Kap auch stellt. Valerys Diagnose folgt aus der Untersuchung einer Krise, einer Krise schlechthin, wenn man so sagen kann; sie ge­ fährdet das Kapital als Kulturkapital: »Ich behaupte, daß das Kapital unserer Kultur gefährdet ist.« (A. a. 0., S. 1090) Einern Arzt gleich untersucht Valery das Symptom des »Fiebers«. Das Übel macht er in der Struktur des Kapitals selbst aus. Das Kapital supponiert die Wirklichkeit des Ge­ genstandes, also die materielle Kultur, aber auch das Dasein der Menschen. Die Valerysche Rhetorik ist hier gleichzeitig kulturell, ökonomisch, technisch, wissenschaftlich und strategisch­militärischen Wesens: »Woraus besteht das Kapital der Kultur oder der Zivilisa­ tion? Zunächst einmal setzt es sich aus Dingen, aus mate­ riellen Gegenständen zusammen: aus Büchern, Bildern, Instrumenten usw., deren Dauer man voraussehen kann, die als Dinge zerbrechlich, empfindlich, vergänglich sind. Doch reicht dieses Material nicht aus. Denn ein Goldbarren, ein Hektar fruchtbaren Landes oder eine Maschine sind auch keine Kapitalien, wenn es den ,Men­ sehen, der ihrer bedarf und sich ihrer zu bedienen weiß, nicht gibt. Beachten Sie diese beiden Bedingungen. Da­ mit aus Kulturmaterial Kapital wird, erfordert es eben­ falls die Existenz von Menschen, die es brauchen und die mit ihm umgehen können ­ das heißt von Menschen, die wissensdurstig sind und die Kraft suchen, sich innerlich zu verändern, Kraft, ihre Sensibilität zu entwickeln; Menschen, die andrerseits die nötige Übung, die erfor­ derliche intellektuelle Disziplin, die notwendigen Verein­ barungen und Fertigkeiten sich anzueignen und dann umzusetzen wissen, um das Arsenal von Dokumenten und Instrumenten zu benützen, das im Laufe der Jahr­ hunderte angehäuft wurde. 50 Ich behaupte, daß das Kapital unserer Kultur gefährdet ist.« (A. a. 0., S. ro89f.) Die Sprache des Gedächtnisses (einen Vorrat bilden, archi­ vieren, dokumentieren, anhäufen) kreuzt sich so mit der wirtschaftlichen Sprache und mit der technisch­wissen­ schaftlichen Sprache der Polemologie (»Wissen«, »Instru­ mente«, »Kraft«, »Arsenal« usw.). Die Gefahr, die auf das Kapital lauert, gefährdet wesentlich dessen »Idealität«: Va­ Iery spricht von unserem »idealen Kapitale. Die Idealität geht auf jenes zurück, was beim Kapitalisieren seine eigenen Grenzen überschreitet (die Grenzen des Sinnlich­Empiri­ schen oder der Partikularität im allgemeinen), um sich dem Unendlichen zu öffnen und eine Stätte für das Allgemein­ Universelle zu schaffen. Die Maxime des Maximalen, die, wie deutlich geworden ist, nichts anderes ist als der Geist selber, weist dem europäischen Menschen jenes zu, was sein Wesen ausmacht (»Diese Gesamtheit von Maxima ist Eu­ ropa«), Das Programm dieser Logik ­ oder dieser Analogik ­ ist uns wohlbekannt. Wir alten europäischen Philosophen können seine Form beschreiben, wir sind Experten dafür. Es handelt sich um eine Logik, die ich hier nicht kritisieren möchte­ im Grunde handelt es sich um die Logik selbst. Ich wäre sogar bereit, mich ihr zu verschreiben, aber nur mit einer Hand, da ich die andere wahren möchte, um etwas anderes zu schreiben und zu suchen, vielleicht außerhalb Europas. Ich möchte nicht nur mit den Mitteln der For­ schung, der Analyse, des Wissens und der Philosophie jenes suchen, was sich bereits außerhalb Europas befindet; es geht mir vor allem darum, nicht im voraus der Zu­kunft des Er­ eignisseseinen Riegel vorzuschieben: der Zukunft des Kom­ menden, der Zukunft dessen, was vielleicht kommt und was vielleicht von einem ganz anderen Ufer aus kommt. Im Sinne der kapitalen Logik, die hier bestätigt wird, bedroht das die europäische Identität Bedrohende nicht we­ sentlich Europa, sondern, im Geist, die Allgemeinheit, das Universelle, für die diese Identität einsteht, deren Rücklage, deren Kapital oder deren Kapitale sie darstellt. Was das kul­ turelle Kapital als ideales oder ideelles Kapital in die Krise stürzt (»Ich bin Zeuge des Verschwindens von Menschen gewesen, die für die rechte und geregelte Bildung unseres idealen oder ideellen Kapitals höchst wertvoll waren ... «), ist das Verschwinden jener Menschen, die lesen (»eine verlo­ rengegangene Tugend«), die verstehen und gar (zu)hören konnten, die sahen und wiederlasen, etwas erneut hörten und in der Lage waren, etwas erneut zu sehen und zu be­ trachten; diese Menschen verfügten über die Fähigkeit der Wiederholung und das Vermögen des Gedächtnisses, sie wa­ ren darauf vorbereitet, zu antworten, sie konnten sich vor dem, was sie einmal gehört, gesehen, gelesen, gewußt hat­ ten, verantworten, sie konnten dafür einstehen und antwor­ ten. Durch ein solches verantwortliches Gedächtnis konsti­ tuierte sich ein »[ester Wert« (Valery unterstreicht beide Wörter) und entstand zugleich ein absoluter Mehrwert; denn das allgemeine, universelle Kapital vermehrte sich: » ... was sie erneut lesen, hören oder sehen wollten, ver­ wandelte sich aufgrund dieses Zurückkehrens in einen fe­ sten Wert. Das universelle Kapital vermehrte sich so.« (A.a.O., S. 1091) Nachdem ich diesen Diskurs gebilligt und dabei auch in eine andere Richtung geblickt habe, möchte ich nun übereilt zu meinen Schlußbemerkungen kommen; das Übereilen, die Überstürzung ist übrigens auch eine Bewegung des Oberhaupts, das uns mit nach vorne gestrecktem Kopf an­ führt. Wichtig ist mir das kapitale Paradoxon der Allge­ meinheit oder des Universellen. Darin treffen nämlich alle Antinomien aufeinander, für die wir, wie es scheint, keine allgemeine Regel oder Lösung zur Verfügung haben. Wir verfügen, wir dürfen nur über die undankbare Trockenheit, die Barschheit und Dürre eines Axioms verfügen: die Erfah­ rung der kulturellen Identität und Identifikation kann nichts anderes sein als die Probe, als das Aushalten dieser Antinomien. Wenn wir sagen: »es scheint, daß wir über keine allgemeine Regel oder Lösung verfügen«, muß man dann nicht darunter verstehen, daß wir über eine solche Regel oder Lösung nicht verfügen dürfen? Nicht nur, daß wir nicht über sie verfügen sollten, sondern auch, daß wir es nicht dürfen? Dieses entblößte, wehrlose Sich­Aussetzen ist die negative Gestalt des Imperativs, der für jede mögliche Verantwortung ­ wenn es denn Verantwortung gibt ­ die Chance ihrer Bejahung und Behauptung in sich birgt. Im voraus über die Allgemeinheit einer Regel im Sinne einer Lösung für die Antinomie (für das doppelte, widersprüch­ liche Gesetz, nicht für den Gegensatz zwischen dem Gesetz und seinem anderen) zu verfügen, darüber wie Über ein (vor)gegebenes Vermögen oder ein vorhandenes Wissen, wie über ein Wissen oder eine Macht zu verfügen, die der Besonderheit jeder Entscheidung, jeden Urteils, jeder Er­ fahrung vorausgehen, um sie mit Normen zu regeln und sich auf sie wie auf einzelne Fälle zu beziehen ­ damit wäre die sicherste, beruhigendste Bestimmung der Verantwor­ tung als Unverantwortlichkeit gegeben, die Moral mit dem juridischen Kalkül verwechselt, die Politik in Gestalt einer Techno­Wissenschaft eingerichtet. Die Erfindung des Neuen, die sich nicht der Probe der Antinomie unterzieht, ist ein gefährlicher Schwindel: Sie ist die Immoralität samt gutem Gewissen; zuweilen ist sie auch das gute Gewissen als Immoralität. Der Begriff des Allgemeinen oder Universellen und der mit ihm verbundene Wert kapitalisieren hier alle Antino­ mien, weil sie sich an Begriff und Wert des Beispielhaften binden müssen; dieses schreibt das Universelle dem Leib eines Singulären, eines Idioms oder eine Kultur ein. Die Singularität kann dabei individuellen, gesellschaftlichen, nationalen oder staatlichen Wesens sein, es kann sich auch 53 um die Singularität einer Föderation oder einer Konfödera­ tion handeln. Unabhängig davon aber, ob sie etwa eine nationale Gestalt hat, sich besonders raffiniert ausnimmt, · gastfreundschaftlich oder auf aggressive Weise fremden­ feindlich ist ­ die Selbstbehauptung einer Identität erhebt stets den Anspruch, auf den Anruf oder die Anweisung des Universellen zu antworten. Dieses Gesetz duldet keine Ausnahme. Keine kulturelle Identität stellt sich als der un­ durchlässige Leib oder Körper eines Idioms dar, im Gegen­ teil: jede erscheint immer als die unersetzbare Einschrei­ bung des Universellen in das Singuläre, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des Menschen. Regelmäßig stoßen wir auf den Diskurs der Ver­ antwortung: Ich trage ­ das einzigartige »Ich« trägt ­ die Verantwortung, Zeugnis abzulegen vom Universellen. Je­ desmal ist die Beispielhaftigkeit des Beispiels einzigartig. Deshalb bildet sie eine Reihe und nimmt die Gestalt eines Gesetzes an. Erlauben Sie mir, erneut Valery als Beispiel zu wählen; ich denke, daß dieses Beispiel nicht weniger typisch oder archetypisch ist als andere Beispiele auch. Für mich, der ich mich gerade an Sie wende, hat Valery überdies den Vorzug, im Französischen und auf französisch das » Lächer­ lichste« und das »Schönste« am Gallozentrismus wahrzu­ nehmen und anzuprangern. Immer noch befinden wir uns im Theater des Herannahenden und schreiben das Jahr 1939. Am Ende eines Aufsatzes, der den Titel Denken und Kunst in Frankreich trägt, beschwört Valery den »Titel« Frankreichs, also dessen Kapital; ein »Titel« hat die Bedeu­ tung eines Haupts, eines Huts, eines Kaps oder eines Kapi­ tals: »Ich komme zum Ende, indem ich kurz den persönlichen Eindruck, den ich von Frankreich habe, zusammenfasse: Unsere Eigentümlichkeit (das, was uns zuweilen lächer­ lich erscheinen läßt, häufig aber unser schönster Titel, unsere schönste Auszeichnung) besteht darin, daß wir 54 uns für Träger des Allgemeinen und Universellen halten. Wir haben das Gefühl, Universal­ oder Weltmenschen zu sein ... Beachten Sie das Paradoxe daran: den Sinn für das Universelle und Allgemeine zur Besonderheit haben.«? Hier wird nicht eine Wahrheit oder das Wesen beschrieben, schon gar nicht eine Gewißheit: vielmehr geht es um einen »persönlichen Eindruck« Valerys, den dieser als solchen vorträgt und der eine Ansicht oder ein Gefühl betrifft: »wir (halten) uns für Träger des Allgemeinen und Universellen. Wir haben das Gefühl, Universal­ oder Weltmenschen zu sein.« Doch diese subjektiven Phänomene (Ansicht, Ge­ fühl, Eindruck von jemandem, der »wir« sagt) sollen die wesentlichen, konstitutiven Züge des französischen Be­ wußtseins als eines ­eigentürnlichen« und besonderen sein. Das Paradoxon ist noch ungewöhnlicher, als Valery ahnen konnte oder wollte: Es ist keineswegs den Franzosen ­ ja nicht einmal den Europäern ­ vorbehalten, sich für »Welt­ menschen« zu halten. Husserl behauptet vom europäischen Philosophen, daß er in dem Maße, in dem er der universel­ len Vernunft sich verschreibt, auch ein »Funktionar der Menschheit« ist. Dieses Paradoxon des Paradoxons bewirkt durch das ket­ tenförmige Sich­Verbreiten einer Spaltung ­ durch das Sich­ Verbreiten einer Spaltung in der Kette­, daß sich alle Aussa­ gen und Anweisungen teilen, daß das Kap aufreißt, daß sich das Kapital ent­identifiziert: Es bezieht sich auf sich selbst nicht allein, um sich im Mit­sich­selber­Differieren, im Dif­ ferieren mit dem anderen Kap ­ und dem anderen Ufer des Kaps ­ zu sammeln, sondern auch, um sich zu öffnen, so nämlich, daß es sich nicht mehr sammeln kann. Es öffnet sich, es hat bereits damit begonnen, sich zu öffnen, man muß dies zur Kenntnis nehmen: Das bedeutet, daß man (es) erinnernd bestätigen muß, nicht bloß, daß man (es als) et­ was Notwendiges, das sich unabänderlich vollzieht, archi­ vieren und registrieren soll. Das Kap hat begonnen, sich 55 dem anderen Ufer eines anderen Kaps zu öffnen ­ mag die­ ses andere Kap auch ein entgegengesetztes Kap sein, mag das Sich­Öffnen auch im Krieg geschehen, mag der Wider­ stand des Entgegengesetzten auch ein innerer sein. Doch gerade deshalb hat es zugleich begonnen, das andere des Kaps im allgemeinen zu erahnen, das Kommen dieses ande­ ren zu sehen und zu hören. Radikal und ernst (Ernsthaftig­ keit einer leichtfüßigen und kaum wahrnehmbaren Chance, die nichts ist als die Erfahrung des anderen) nimmt sich die Konsequenz aus, die man so zum Ausdruck bringen kann: Das Kap hat begonnen, sich zu öffnen oder vielmehr sich öffnen zu lassen, besser noch: es ist geöffnet worden, ohne daß es sich selber von sich aus einem anderen geöffnet hätte; dabei kann das Kap dieses andere nicht einmal mehr auf sich beziehen, wie man sein anderes auf sich bezieht (das andere ist dann ein anderes bei oder mit sich). Aus solcher Sicht ist es die Pflicht, dem Ruf, dem Appell des europäischen Gedächtnisses zu antworten, zu folgen, und jenes in Erinnerung zu bringen, erneut zu identifizie­ ren, was sich unter dem Namen Europa als Versprechen ankündigte, nicht daran zu messen, was man gemeinhin als »Pflicht« bezeichnet. Könnte man indes nicht sagen, daß jede andere Pflicht diese stillschweigend voraussetzt? Diese Pflicht hält uns auch dazu an, Europa von dem Kap aus, dessen Ufer sich teilt, auf jenes hin zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein wird. Dieselbe Pflicht zwingt uns des weiteren nicht nur, den Fremden aufzunehmen, um ihn einzugliedern, sondern auch, ihn aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen: Dabei stehen zwei Begriffe der Gast­ freundschaft auf dem Spiel, die heute unser europäisches und nationales Bewußtsein spalten. Dieselbe Pflicht schreibt uns einerseits vor, »theoretisch und praktisch« unermüdlich einen totalitären Dogmatis­ mus zu kritisieren, der unter dem Vorwand, dem Kapital ein Ende zu bereiten, die Demokratie und das europäische Erbe zerstört hat, andererseits, die Religion des Kapitals kritisch zu hinterfragen, die ihren eigenen Dogmatismus unter neuen Gesichtern etabliert, Gesichtern, die zu identifizie­ ren wir erst noch lernen müssen. Die Zukunft hängt von dieser doppelten Kritik ab; ohne sie wird es keine Zukunft geben. Dieselbe Pflicht diktiert uns, die Tugend dieser Kritik, die Tugend der Idee der Kritik, die Tugend der kritischen Tradi­ tion zu pflegen, sie allerdings auch, jenseits der Kritik und der Frage, zum Gegenstand einer dekonstruktiven Genea­ logie zu machen, die ihr Wesen denkt und über sie hinaus­ geht, ohne sie aufs Spiel zu setzen. Dieselbe Pflicht trägt uns auf, das ­ ausschließlich­ euro­ päische Erbe der demokratischen Idee anzunehmen, zu­ gleich aber auch zu erkennen, daß diese Idee der Demokra­ tie­ nicht anders als die des internationalen Rechts­niemals eine (vor)gegebene Idee ist: Ihr Rang ist nicht einmal der einer regulativen Idee im Sinne Kants; eher ist diese Idee der Demokratie etwas, was noch gedacht werden muß und was noch im Kommen bleibt, womit wiederum nicht behauptet werden soll, daß sie morgen uns mit Sicherheit erreichen wird, so, als ginge es bloß um eine in der Zukunft gegenwär­ tige (nationale oder internationale, staatliche oder zwi­ schenstaatliche) Demokratie. Gemeint ist eine Demokratie, die sich durch die Struktur des Versprechens ausweisen muß ­ und folglich durch das Geddcbtnis dessen, was hier und jetzt zukunftstriichtig ist. Dieselbe Pflicht gebietet uns, die Differenz, das Idiom, die Minderheit und die Singularität zu achten; allerdings auch die Allgemeinheit und Universalität des formalen Rechts, den Wunsch nach Übertragung, die Übereinkunft, die Eindeutigkeit, den Widerstand gegen Rassismus, Natio­ nalismus und Fremdenhaß. Dieselbe Pflicht heißt uns, alles zu tolerieren und zu re­ 57 spektieren, was sich nicht der Autorität der Vernunft fügt. Dabei kann es sich etwa um den Glauben, um verschiedene Glaubensformen handeln. Oder auch um Gestalten des Denkens, die fragend vorgehen und den Versuch unterneh­ men, sich auf die Vernunft und ihre Geschichte zu besinnen, die sich also zwangsläufig über die Ordnung der Vernunft hinausbewegen, ohne darum bereits unvernünftig zu sein oder gar dem Irrationalismus zu verfallen. Solche Gestalten des Denkens können sich bemühen, einerseits dem Ideal der Aufklärung, der Lumieres, des Illuminismo die Treue zu halten, und auf der anderen Seite seine Begrenztheit zu re­ flektieren, um auf solche Weise an der Aufklärung unserer Zeit zu arbeiten, an der Aufklärung einer Zeit, die unsere Zeit ist ­ heute. Heute ­ wiederum und immer noch: heute (»Was werden Sie HEUTE tun P«). Sicherlich fordert die Pflicht, mit der wir uns hier beschäf­ tigen ­ dieselbe Pflicht ­, eine Verantwortung, die darin besteht, daß man den doppelten, widersprüchlichen Impe­ rativ denkt, daß man in seinem Sinne redet und ihm gemäß handelt. Der Widerspruch dieses Imperativs darf freilich nicht einfach eine scheinbare oder trügerische Antinomie sein, auch kein transzendentaler Schein, der aus einer Dia­ lektik kantischen Zuschnitts sich ergeben würde: Er muß wirksam sein, unendlich für die Erfahrung (oder dort, wo er erfahren wird). Im gleichen Zug fordert jedoch dieselbe Pflicht, daß man das respektiert, was eine gewisse Verant­ wortung verweigert und zum Beispiel nicht bereit ist, sich jedem beliebigen Tribunal zu stellen, um sich zu verantwor­ ten. Wie wir wissen, konnte der unheilvollste Schdanowis­ mus gegen Intellektuelle wüten, indem man sie bezichtigte, sich der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft oder der Geschichte entzogen zu haben; dabei »repräsentierte« zu je­ nem Zeitpunkt ein bestimmter, damals gegenwärtiger ­ ge­ sellschaftlicher oder geschichtlicher ­ Zustand ­ oder schlicht Staat­die Gesellschaft oder die Geschichte. Ich halte an dieser Stelle inne, weil es inzwischen spät ge­ worden ist; man könnte noch viele andere Beispiele für diese doppelte Pflicht anführen. Vor allem aber wären die neuen Formen, die ihr heute in Europa zukommen, zu unterschei­ den. Und diese Probe der Antinomie (in Form etwa des doppelten Zwangs, der Unentscheidbarkeit, des performa­ tiven Widerspruchs usw.) wäre nicht allein hinzunehmen, sondern geradezu einzuklagen. Man müßte sowohl deren typische oder rekurrente Gestalt als auch deren unerschöpf­ liche Besonderung erkennen ­ ohne sie gibt es kein Ereignis, keine Entscheidung, keine Verantwortung, keine Moral, keine Politik. Das Bedingende kann hier lediglich eine nega­ tive Form haben (ohne X kein Y). Nur dieser negativen Form kann man sich sicher sein, nur sie verleiht Sicherheit. Sobald man sie in eine positive Gewißheit verwandelt (sun­ ter dieser Bedingung wird sich mit Sicherheit ein Ereignis ereignet, wird es Entscheidung, Verantwortung, Moral und Politik gegeben haben«), darf man dessen gewiß sein, daß man begonnen hat, sich ­ ja den anderen ­ zu täuschen. Wir reden hier von Ereignis, Entscheidung, Verantwor­ tung, politischer Moral, ja von Europa wie von »Dingen«, die die theoretische Bestimmung, das Wissen, die Gewiß­ heit, das Urteil, die Aussage (sdies ist jenes«), allgemeiner und wesentlicher noch: die die Ordnung der Gegenwart und Anwesenheit, der Erscheinung und Vergegenwärtigung übersteigen und übersteigen müssen. Reduziert man sie auf jenes, was sie übersteigen, verleiht man der Täuschung, der Leichtfertigkeit, dem Ungedachten, der Unverantwortlich­ keit das ­ stets vorteilhafte ­Antlitz eines guten Gewissens (man sollte aber hinzufügen, daß eine bestimmte ernste Maske des ausgestellten schlechten Gewissens, die kein Lä­ cheln kennt, häufig bloß eine zusätzliche List zur Schau trägt: das gute Gewissen verfügt per definitionem über un­ endliche Ressourcen; man wird sie immer wieder ausnützen können). 59 Ein letztes Wort noch. Das Paradoxon des Paradoxons ­ sowie das ununterbrochene Sich­Spalten, mit dem es unse­ ren Diskurs affiziert ­ sollte uns dazu bringen, den alten Namen »Europa« sehr ernst zu nehmen und ihn zugleich in Anführungszeichen zu setzen, so, als müßte man sich seiner vorsichtig bedienen, ohne ihn zu überfrachten, so, als wäre er in einer gegebenen Situation das beste Paleonym für je­ nes, was wir erinnern (dessen wir uns erinnern) oder was wir versprechen (was wir uns versprechen). Mit den Wörtern ­Kapiral« (Kapital, Kapitale), »Identität« und »Kultur« würde ich ­ aus denselben Gründen ­ genauso umgehen. Ich bin ein Europäer, zweifellos bin ich ein europäischer Intellektueller, und es gefällt mir, (mich) daran zu erinnern; weshalb sollte ich mich dagegen wehren? In wessen Namen sollte ich dies tun? Doch bin und fühle ich mich nicht durch und durch europäisch. Damit will ich sagen (mir liegt daran, ich muß es sagen), daß ich nicht durch und durch europäisch sein möchte und sein darf. Die Zugehörigkeit, die das »durch und durch« ausdrückt, und die Zugehörigkeit »rnit einem ganzen Teil seiner selbst« müßten eigentlich unver­ einbar sein. Meine kulturelle Identität, jene, in deren Na­ men ich rede, ist nicht bloß europäisch, sie ist nicht mit .sich selber identisch; ich bin nicht durch und durch »kultu­ rell«. Wenn ich nun, zum Abschluß, behaupten würde, daß ich mich unter anderem als Europäer fühle: Wäre ich dann auf­ grund dieser Behauptung europäischer noch oder weniger europäisch? Wohl beides. Man ziehe daraus die Konsequen­ zen. In jedem Fall steht es den anderen zu ­ und mir in ihrer Mitte­, darüber zu entscheiden. Anmerkungen 1 Paul Valery, La crise de l'esprit, Note (ou L'Europeen), in: Essais quasi­politiques, (Euures I, Paris 1957, S. 1004; dt.: ders., Die Krise des Geistes. Drei Essays, Insel­Verlag Wiesbaden 1956. (Man erlaube mir, beiläufig darauf hin­ zuweisen, daß der Vortrag Das andere Kap in gewisser Hinsicht Gedankengänge voraussetzt und genauer faßt, die ich bereits in anderen Schriften veröffentlicht habe; dies gilt für all jene Abschnitte des Vortrags, die sich mit dem Verhältnis Europas zum Geist beschäftigen ­ vor al­ lem dann, wenn es dabei um Valery und Husserl geht, aber auch, wenn es sich auf eher implizite Weise um Hegel und Heidegger dreht. Jene Gedankengänge sind vor al­ lem in meinem Buch Vom Geist. Heidegger und die Frage (Frankfurt am Main 1988 und 1992) sichtbar. Die lange Fußnote, die darin Valery gewidmet ist (S. 140), wird im vorliegenden Text im Grunde nur ein wenig verlängert. Diese Fußnote stellt den Anfang einer vergleichenden Untersuchung dar, die Valerys, Husserls und Heideggers Diskurse über »die Krise oder die Entmachtung des Gei­ stes als Krise oder Entmachtung des europäischen Gei­ stes« zum Gegenstand hat. Eine von Valery aufgeworfene Frage liegt ihr zugrunde: »Erscheinungen wie die Aus­ beutung unseres Planeten, die Angleichung der Tech­ niken und die allgemeine Demokratisierung, die für Europa eine diminutio capitis voraussehen lassen, muß man sie als unwiderrufliche Entscheidungen des Schick­ sals hinnehmen? Oder bleibt uns irgendeine Freiheit ge­ genüber dieser bedrohlichen Verschwörung der Dinge?« [A.a.O., S. 1000; dt, S.23 (Übersetzung modifiziert. A.d. Ü.)) Auf die Frage »Aber wer ist nun Europäer?« ­ also auf die Frage nach unserer »Auszeichnung« und nach dem, 61 was uns »irn Verhältnis zur übrigen Menschheit am mei­ sten ausgezeichnet hat« ­ antwortet Valery, indem er zunächst der Geschichte dessen nachgeht, was er als die »Hauptstadt« oder als die »Stadt schlechthin­ bezeichnet; mit dieser Stadt meint er Rom, das (geschichtlich) auf Jerusalem und Athen folgt. Am Ende definiert er den homo europeus aufgrund auszeichnender Merkmale, die sich nicht mit denen der Rasse, der Sprache und der Sitten decken. Er definiert ihn noch unter Berufung auf den Geist. Dessen Wesen manifestiert sich und leiht sein Er­ scheinungsbild einer ökonomisch­metaphysischen (zu­ gleich subjektiven und objektiven) Bestimmung des Seins als Bedürfnis und Begierde, Arbeit und Wille. Europa ist der Name, den jenes trägt, was das begehrende oder wol­ lende Subjekt seiner objektivierbaren Maximalbestim­ mung zuführt. Das Kapital gehört zu der Reihe seiner phänomenalen Manifestationen: »Woes um Kraft, Macht, Vermögen und genaue Kennt­ nis geht, wiegt Europa heute noch viel schwerer als die übrige Welt. Ich täusche mich: nicht Europa über­ wiegt, sondern der europäische Geist, dessen großar­ tige Schöpfung Amerika ist. [Vgl. dazu: Valery, L'Ame­ rique, projection de l'espru europeen, in: (Euures II, S. 987f., ]. D.] Überall, wo der europäische Geist herrscht, sieht man ein Maximum an Bedürfnissen, ein Maximum an Arbeit, Kapital, Ertrag, Ehrgeiz, Macht und ein Maxi­ mum an Veränderung der iiußeren Natur, ein Maxi­ mum an Wechselbeziehungen und Austausch auftre­ ten. Das Gesamt dieser Maxima ist Europa oder Europas ·Abbild. Auf der anderen Seite sind die Bedingungen dieser Gestaltung und dieser erstaunlichen Ungleichheit of­ fensichtlich an die Fähigkeiten der Individuen, an die des durchschnittlichen Homo europeus ge­ bunden. Es ist auffallend, daß der Mensch Europas weder durch Rasse noch durch Sprache, noch durch Bräuche bestimmt wird, sondern durch Begierde und Wunsch und durch den Umfang seiner Willenskraft.« (<Euvres I, a. a. 0., S. 1014; dt., a. a. 0., S. 45 [Über­ setzung modifiziert, A. d. Ü.]) Man hat es sicher bemerkt: Wenn er fragt, was Europa in seiner absoluten Singularität auszeichnet und erforderlich macht oder hervor­ruft, weiß Valery, daß er es mit dem Namen Europas zu tun hat, daß er den Namen Europa als einen absoluten Eigennamen behandeln muß. Bei dieser Bezugnahme, an die man nicht rühren, der. man keinen anderen Ort zuweisen kann, steht ein Individuum auf dem Spiel, das eine persönliche Identität hat; seine Ide~tität ist persönlicher, sie ist mehr noch die Identität einer Person, als es die aller Personen Europas sein kann; denn diese haben an dem absoluten Geist teil, der ihre Möglichkeit darstellt. Daher auch wählt Valery eine Form der Defini­ tion oder der Beschreibung, die die Gesamtheit der Höchstbestimmungen Europa selbst und nicht einem oder dem abstrakten Europa [l'Europe] zuweist: »Cet ensemble de maxima est Europe« (s­Das Gesamt dieser Maxima ist Europa«), Valery, (Euores I, a.a.O., S. 995; dt., a.a.O., S. 16 (Übersetzung modifiziert, A. d. Ü.). Hier muß ich mich darauf beschränken, im Vorbeigehen oder am Ende nur ein Lektüreprogramm vorzulegen (Zählung, einem logi­ schen Prinzip folgendes Verzeichnen, Interpretation), das die Art und Weise, wie Valery den kapitalischen Wort­ schatz gebraucht, zum Gegenstand hat. Ob es sich nun um Geschichte oder um geschichtliches Wissen, um das Ereignis oder den Begriff handelt ­ immer müßte man den »kapitalen Moment« ( (Euures II, S. 9 r 5) zu fassen suchen. Der »grundlegende Begriff des Ereignisses« ist, Qualität 2 so Valery, vom Historiker nicht gedacht, nicht »neu durchdachr« worden (a. a. 0., S. 920), weil der »kapitale Moment der bündigen Definitionen und besonderen Konventionen, welche an die Stelle jener (ihrer Herkunft nach undeutlichen und statistischen) Bedeutungen tre­ ten, für die Geschichte noch nicht eingetreten ist« (a.a.O., S. 915). Anders gewendet: Was für die Ge­ schichte ­ als Wissenschaft ­ noch nicht eingetreten ist, ist das kapitale Ereignis eines Begriffs, einer Denkmög­ lichkeit, die es dieser Wissenschaft gestatten würde, zu­ nächst einmal das Ereignis als solches zu denken. In einem anderen Abschnitt des zitierten Textes beschreibt der Ausdruck »kapitales Ereignis« die Erscheinung einer konfigurativen und identifizierenden Einheit, einer Ko­ ordination oder eines Korrespondenz­Systems, auf die man bei der Beobachtung des Fortschritts und der Glie­ derung der sinnlichen Wahrnehmung und Erkenntnis aufmerksam wird. Valery hebt das Wort »Ereignis« her­ vor: »Das Auge, der Taktsinn und die Handlungen treten in eine solche Wechselwirkung, daß sie eine Tabelle mit mehreren Eintragungen schaffen, bei der es sich u~ die sinnliche Welt handelt; nun kann es geschehen ­ ein ka­ pitales Ereignis! ­, daß ein bestimmtes Korrespondenz­ system notwendig und auch ausreichend ist, um alle Farbeindrücke mit allen sinnlichen Empfindungen der Haut und der Muskulatur gleichförmig abzustirnmen.« (A. a. 0., S. 922) Dieses Ereignis ist nicht nur ein kapita­ les Ereignis; es ist das Ereignis des Kapitalen selbst, das Ereignis dessen, was man als Kopf bezeichnet. Es verhält sich überdies ­oder gerade aufgrund des Dar­ gelegten ­ so, daß dieser Diskurs ­ jenseits des bloßen ge­ schichtlichen Wissens ­ unmittelbar an die geschichtliche Sache rührt, an das Geflecht oder das Gewebe der Er­ eignisse, und zwar zunächst aus europäischer Sicht. Was nämlich den Historikern entgangen sein soll, ist das, was ist. Das »beträchtliche Ereig­ nis«, das seiner »wesentlichen Besonderheit­ wegen den Historikern und den »Zeitgenossen« entgangen ist, be­ steht in der Überfüllung der bewohnbaren Erde; es besteht darin, daß durch die »unheilvolle Hexerei der Schrift« alles mit allem in Beziehung getreten ist und daß »die Zeit der endlichen Welt beginnt«. Politik und Geschichte können nicht länger über das Ausfindig­Machen oder das »Son­ dern der Ereignisse­ spekulieren. Es gibt keine lokalen Krisen und Kriege mehr. Der »VerfallEuropas« (a. a. 0., S. 927) gehört jener »Zeit der endlichen Welt« an, deren beschleunigte Herbeiführung Europa selber betrieben hat: durch die eigene Ausfuhr nämlich, dadurch also, daß es die »Nicht­Europäer«, die lediglich »in dem Zustand verbleiben wollten, in dem sie sich befanden«, europäisch geprägt, dadurch, daß es sie aufgeklärt, gebildet und mit Waffen beliefert hat ­ es ist Valery, der sich dieser Wörter bedient. »In dem Zustand verbleiben wollen, in dem man sich befindet«: damit ist zumindest der Ton angegeben. Was der europäisch­kapitalistische Anti­Kolonialismus oder, wenn man will, Hyper­Kolonialismus des Groß­ europäersValeryverurteilt, ist nicht so sehr das Phänomen des Kolonialismus als vielmehr die interne Konkurrenz, welche die europäischen Kolonialismen gespalten und das »ungeheuere Wissenskapital« zerstreut hat ­ das Ka­ pital, das sich der »Anstrengung der größten und besten europäischen Köpfe« verdankt: »Die lokale europäische Politik, die eine universal gewordene Politik Europas be­ herrscht und widersinnig erscheinen läßt, hat die konkur­ rierenden Europäer dazu verleitet, die Verfahren und die Geräte auszuführen, durch die Europa sich in den Lehn­ herrn der Welt verwandelt hatte. Die Europäer haben sich den Profit streitig gemacht, den die Aufklärung, die Aus­ bildung und die Bewaffnung von ungeheuren Völkern erbringt; von Völkern, die in ihren Überlieferungen er­ dem Ereignis widerfahren starrt waren und nichts anderes wollten, als in dem Zu­ stand zu verbleiben, in dem sie sich befanden [ ... ] Nichts in der gesamten Geschichte ist törichter gewesen als die europäische Konkurrenz in Fragen der Politik und Wirt­ schaft; dies ist besonders auffällig, wenn man diese Kon­ kurrenz mit der europäischen Einheit und Allianz in Fragen der Wissenschaft vergleicht, wenn man sie damit in Zusammenhang bringt oder wenn man sie dieser Einheit und Allianz gegenüberstellt. Während die Anstrengungen der größten und besten Köpfe Europas ein ungeheueres Kapital [Hervorhebung von mir, J. D.] an verwertbarem Wissen entstehen ließen, wurde weiter die einfältige Tradi­ tion einer historischen Politik der Begierde und des Hin­ tergedankens verfolgt; dieser kleineuropäische Geist lie­ ferte im Zuge einer Art Verrat jenen die Methoden und Instrumente der Macht, die man zu beherrschen suchte [ ... ]Europa wird keine Politik auf der Höhe seines Den­ kens gehabt haben.« (A. a. 0., S. 926) Die Zweideutigkeit dieses Diskurses hat sich wohl zu keinem anderen Zeitpunkt als dem heutigen (dieses Heute, das Heute dieser Anmerkung trägt das Datum des dritten Golfkrieg­Tages") dem Zugriff so leicht dargebo­ '' Valery, dieser Denker der Fiktion, der Konvention, des Relais, der Tele­ kommunikation war vor allem auch der Denker des heutigen Krieges, des Krieges, der ausbricht, wenn »die Zeit der endlichen Welt• beginnt: »Von nun an wird, wenn an irgendeinem Ort der Welt eine Schlacht stattfindet, nichts einfacher sein als deren Geschütze auf der ganzen Erde hören zu lassen. Die Einschläge von Verdun würden auf den Antipoden empfangen werden. Man wird sogar etwas von den Kämpfen und den Menschen wahr­ nehmen können, die 6000 Meilen von einem selbst fallen, eine dreihundert­ ste! Sekunde nach dem Schuß.« So hebt ein kurzer Text an, der den Titel Hypothese trägt ­ Titel eines Denkens, das sich hypothetisch entfaltet am Thema des hypothetischen Charakters von allem, des Ich wie des Ganzen, und zwar nun und seit dem Ursprung, da die Konvention und das Relais darin die Herrschaft des Simulacrums etablieren. Die letzten Worte dieser Hypothese lauten: .Wird unser Leben nicht, so sehr es auch von dem ab­ hängt, was an den Geist herankommt, was vom Geist zu kommen und sich ihm aufzuerlegen scheint, nachdem es sich ihm auferlegt hat, wird es nicht durch eine enorme und ungeordnete Menge von Konventionen beherrscht, 66 ten (die Konsequenzen reichen vom Besseren zum Schlimmsten). Zumal wenn man bedenkt, daß diese Ge­ dankengänge im nachhinein der Textsammlung Regards sur le monde actuel (Blicke auf die gegenwärtige Welt) als Vorwort vorangestellt wurden, genauer noch: dem ersten Text dieser Sammlung, den »Bernerkungen über Größe und Verfall Europas«. Unmittelbar bevor in diesem Text die Frage nach dem »HEUTE« aufgeworfen wird (»Was werden Sie HEUTE tun?«), verurteilt Valery die europäi­ sche Politik, und zwar aufgrund dessen, was sie aus Euro­ pas »Gesetzeskapiral« gemacht hat: »Europa wird für seine Politik bestraft werden; man wird ihm Wein, Bier und Likör nehmen. Und anderes mehr ... Offenbar trachtet Europa danach, von einem amerikanischen Ausschuß regiert zu werden. Seine ge­ samte Politik ist darauf ausgerichtet. Da wir unsere Geschichte nicht loswerden können, werden glück­ liche Völker sie uns abnehmen, die keine oder die kaum Geschichte haben. Glückliche Völker werden uns ihr Glück aufzwingen. Europa hatte sich deutlich von allen übrigen Welttei­ len abgesetzt. Nicht etwa durch seine Politik, sondern trotz seiner Politik; wohl eher ihr widerstehend, hatte die in ihrer Mehrzahl implizit sind? Wir hätten einige Mühe, sie zu formu­ lieren und zu erklären. Die Gesellschaft, die Sprachen, die Gesetze, die Sitten, die Künste, die Politik, alles, was darauf beruht, daß ihm in der Welt Glauben geschenkt wird, jede von ihrer Ursache abweichende Wirkung, verlangt Konventionen, das heißt Relais­ auf deren Umweg sich eine zweite Wirklichkeit installiert, sich mit der sinnlich unmittelbaren Welt kombi­ niert, sie überdeckt, beherrscht ­ manchmal auseinanderreißt, um die erschreckende Einfachheit des elementaren Lebens sichtbar werden zu las­ sen. In unseren Wünschen, unseren Nostalgien, in unserem Streben, in unseren Gefühlen und unseren Leidenschaften und bis hinein in die An­ strengung, die wir machen, um uns selbst zu erkennen, sind wir der Spielball abwesender Dinge ­ die nicht einmal zu existieren brauchen, um zu wirken.« (Valery, <Euvres II, S. 924 f.; dr. unter dem Titel Eine Mut­ maßung in: Karl Löwirh, Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971, S. I)9ff. ­ Übersetzung leicht modifiziert, A.d.Ü.) es die Freiheit seines Geistes bis aufs äußerste entfaltet, seine Leidenschaft zu verstehen mit dem Willen zur Strenge vereinigt, eine genaue und tätige Wißbegierde erfunden; es hatte durch die beharrliche Suche nach Ergebnissen, die sich präzise vergleichen und zusam­ menstellen lassen, ein Kapital an Gesetzen und wirksa­ men Verfahrensweisen geschaffen. Seine Politik aber blieb unverändert; den Reichtümern und den einzigar­ tigen Ressourcen, von denen ich gerade gesprochen habe, entnahm es lediglich das, wessen es bedurfte, um diese primitive Politik zu stärken und sie mit immer fürchterlicheren und barbarischeren Waffen zu versor­ gen.« ((Euvres II, S. 930. Hervorhebungen von mir, J.D.) 3 Zu den Ausdrücken [romrn" undpromos (sie meinen das, was an erster Stelle steht, was in einem Kampf die Stellung der Vor­hut einnimmt) vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vortrageund Aufsdtze, Pfullingen r954, S. 38, sowie die Bemerkungen zu dieser Frage in: Vom Geist. Heidegger und die Frage, a. a. 0., S. 150; zu dem Begriff des Orts" (und dessen Zusammenhang mit der Spitze des Speers) vgl. vor allem Heidegger, Unter­ wegs zur Sprache, Pfullingen r959, S. 37. 4 Ich erlaube mir wiederum, in diesem Kontext auf Vom Geist. Heidegger und die Frage zu verweisen. Ich meine die unmögliche Möglichkeit einer »Logik«, die ich in Psyche. Inventions de l'autre (Paris r987) zu entfal­ ten versuche, besonders in dem ersten Aufsatz dieser Sammlung (sie läßt sich freilich per definitionem nie voll­ kommen in ihrer reinen Form erfassen). 6 Valery, dieser mediterrane Mensch, dieser Europäer, wollte auf ebenso exemplarische Weise der Denker der Stadt Paris sein. Nichts daran ist überraschend: Es ist nämlich genau diese Logik, die wir hier untersuchen. Folgt man dem Text Presence de Paris (Die Präsenz der 68 Stadt Paris), 1937 verfaßt, so liegt die vornehmste und ernsthafteste Aufgabe nicht nur darin, »PARIS zu den­ ken«, sondern auch darin, die Identität dieser Hauptstadt (deren Namen Valery auf fünf Seiten sechsundzwanzig­ mal mit Großbuchstaben versieht), ihre Identität mit dem »Geist selber« zu denken: »Bewußtsein einer dauernden geistigen Sendung«. »Es will mir scheinen«, schreibt Va­ lery, »daß sich das Denken der Stadt PARIS am Denken des Geistes selber mißt, ja daß es mit diesem Denken eins ist.« (Valery, Presence de Paris, in: (Euures II, S. 1012) Dieser Text enthält auf den Seiten, die dem zitierten Satz vorausgehen, ein Vorhaben, das sich einzig durch seine Umkehrung verwirklichen läßt ­ gemäß der Logik des Seins, des Logos des absoluten Geistes (und) der Kapi­ tale. Der Geist erscheint in der Kapitale und stellt sich darin dar, die Kapitale wiederum erscheint und stellt sich im Geist dar. Deshalb wird der Bewohner der Kapitale eher von dem Ort, den er bewohnt, »gedacht«, als daß er selber diesen Ort dächte. Zunächst heißt es: »Es kommt ein widersinniger Wunsch in mir auf, der mich entmutigt: der Wunsch, PARIS zu denken.« Nach vier besonders schönen Seiten folgt dann der höchste Augenblick, der Augenblick des Äußersten, der Augenblick des Bewußt­ werdens und der Umkehrung: »PARIS denken? ... Je mehr man daran denkt und davon träumt, desto deut­ licher fühlt man, daß man von PARIS gedacht wird.« Unmittelbar vor diesem Augenblick richtet sich die Ana­ lyse der Kapitale aller Kapitalen an der »Gestalt« der Gestalten aus. Man kann nämlich die Stadt Paris sichten, mit Blicken messen und ein Gesicht, ein Antlitz, ein Haupt, eine Stirn erkennen: »Paris ist das wahre Haupt Frankreichs, in dem das Land seine hochempfindlichen Wahrnehmungs­ und Reaktionsweisen versammelt. Ihrer Schönheit und ihres Lichts wegen verleiht diese Stadt Frankreich ein Gesicht oder ein Antlitz, auf dem mitun­ ter die gesamte Intelligenz des Landes erstrahlt. Wenn starke Erregungen unser Volk ergreifen, steigt das Blut in diese Stirn, und das allmächtige Gefühl des Stolzes er­ leuchtet sie.« (A. a. 0., S. 1015) Die Logik des »Beispielhaften«, die wir hier nachzu­ zeichnen versuchen, hatte Valery bereits zuvor (in der Schrift Fonction de Paris, 1927) dazu getrieben, die Kapi­ tale nicht einfach als eine kosmopolitische Metropole darzustellen (das Schicksal einer Metropole teilt Paris mit anderen westlichen Großstädten: »[ede europäische oder amerikanische Großstadt ist kosmopolirisch«, a. a. 0., S. 1007), sondern vor allem als die Kapitale der Kapita­ len. Vergleicht man sie mit den übrigen Kapitalen, erhält diese Kapitale eine »Auszeichnung«. Das Wort »Aus­ zeichnung« erweist sich im übrigen als Schlüsselwort dieses Diskurses. Paris zeichnet sich in doppelter Hin­ sicht aus, in zwei Hinsichten oder aufgrund zweier »Ti­ tel«, die ein Kapital bilden. Auf der einen Seite gilt Paris in allen Bereichen als Landeshauptstadt; es ist nicht bloß eine politische oder bloß eine wirtschaftliche oder bloß eine kulturelle Kapitale (s­Selber in einem großen Land die politische, literarische, wissenschaftliche Hauptstadt, die Hauptstadt der Finanzen und des Handels, des Ver­ gnügens und des Prunks sein; die gesamte Geschichte des Landes repräsentieren; dessen ganze Denksubstanz so­ wie dessen ganzen Kredit und fast das ganze Geldvermö­ gen, fast alle verfügbaren Geldmengen aufsaugen und in sich vereinigen: das sind die Merkmale, durch die Paris inmitten aller Riesenstädte der Welt sich auszeichnet, das sind die Merkmale, die der Nation, die Paris krönt, zum Guten und zum Schlechten gereichen.« A. a. 0., S. roo8; Hervorhebungen von mir, J. D.) Auf der anderen Seite ist unsere ausgezeichnete, beispielhafte Kapitale nicht allein die Landeshauptstadt; vielmehr ist sie auch das »Haupt Europas« und folglich der Welt, sie ist die Kapitale der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen, ja besser noch: die Kapitale der »menschlichen Geselligkeit«: »Pa­ ris ist eine Stadt, deren Charakter sich aus langwährender Erfahrung ergibt, aus unendlich vielen geschichtlichen Wechselfällen; in einem Zeitraum, der sich über dreihun­ dert Jahre erstreckt, war diese Stadt zwei­ oder dreimal das Haupt Europas; dreimal wurde sie vom Feind er­ obert; sie war die Bühne, auf der ein halbes Dutzend politischer Revolutionen stattfanden; sie war der Schöp­ fer einer bewundernswerten Anzahl an Berühmtheiten und der Zerstörer einer gewissen Menge an Dummheiten. Was ununterbrochen die Blüte und den Abschaum einer Rasse hervor­ und zu sich ruft, ist zur Metropole mannig­ faltiger Freiheiten und zur Kapitale der menschlichen Geselligkeit geworden.« (A. a. 0., S. 1009; Hervorhe­ bungen von mir, J. D.) Wir dürfen weder die betonte Zweideutigkeit dieser Wertungen noch die abgründigen Möglichkeiten dieser Doppelsinnigkeit beiseite schieben. Im Jahr 1927 zeigt Fonction de Paris all jenes an der Hauptstadt auf, was »der Nation, die sie krönt [also dem Haupt,]. D.], zum Guten und zum Schlechten gereicht«, Neben die »ungeheueren Vorteile« der Konzentration stellt dieser Text auch deren »ernsthafte Gefahren«: der »Abschaum der Rasse« wird mit ihrer »Blüte« verknüpft, so, als würde es sich dabei um einen verhängnisvollen Parasiten handeln. Das Aus­ zeichnende, das, was sich auszeichnet, ist stets jenes, was am meisten bedroht wird; das Beste befindet sich in un­ mittelbarer Nähe zum Schlechtesten und zum Schlimm­ sten. Das Privileg ist seiner eigenen Bestimmung nach etwas Feinsinniges, das in Gefahr gerät. Die Gefahr aber kommt aus dem Ausland ­ nicht aus dem europäischen Ausland: sie kommt aus einer Fremde, die aus größter Entfernung (vom anderen Ufer, von dem Außen Europas aus) ansteckend wirkt. Der Geist selber, der »Geist der 71 Stadt Paris«, der den Geist selber verkörpert, wird von ihr bedroht. Nachdem er vom »Abschaum der Rasse« ge­ sprochen hat, schließt Valery mit den Sätzen: »Der Zu­ wachs an Leichtgläubigkeit in der Welt, der auf die Erschöpfung des deutlichen Vorstellens zurückgeht, dar­ auf, daß exotische Bevölkerungen Zugang zum zivilisier­ ten Leben gewonnen haben, bedroht das, was den Geist der Stadt Paris bislang ausgezeichnet hat. Wir haben Paris als Kapitale der Qualität und der Kritik gekannt. Alles läßt uns um jene Kronen und Kränze bangen, an deren Anfertigung jahrhundertelang feinsinnige Erfahrungen, erhellende Einsichten und bestimmte Wahlen, die wir ge­ troffen haben, beteiligt waren.« [Hervorhebungen von mir,]. D.] Zehn Jahre später, am Vorabend des Krieges, erinnert Valery an die negativen Wirkungen der kapitalen »Konzentration«; auf mehr oder weniger absichtliche Weise bringt er die Vorstellung des Neides und der Eifer­ sucht damit in Zusammenhang und bedient sich­im Jahr 1937 ­ des Ausdrucks »Konzentrationslager«: Gemeint ist ein Lager, das jeden Franzosen, der sich als solcher auszeichnet, verzehrt oder verschlingt. Ich hebe be­ stimmte Wörter in dem betreffenden Abschnitt hervor: »PARIS aber zeichnet sich gegenüber anderen vielköpfi­ gen Ungeheuern aus (gegenüber NEW YORK, LON­ DON, PEKING [ ... ]gegenüber unseren BABYLONI­ SCHEN STÄDTEN) [ ... ] Es gibt nämlich keine Stadt, die über Jahrhunderte hinweg die Elite eines Volkes (in all ihren Gestalten) mit solch ausschließlichem, eifersüchti­ gem Eifer vereinigt, konzentriert hätte; jeder Wert mußte hier anerkannt werden, dem Vergleich mit anderen Wer­ ten standhalten, mit Kritik und Neid oder eifersüchtigem An­Sich­Halten sich auseinandersetzen [ ... ] Solch kost­ barer Austausch und Handel konnte nur an einem Ort entstehen, der jahrhundertelang mit ausschließlichem, ausschließendem, eifersüchtigem Eifer die Elite eines Vol­ 72 kes in all ihren Gestalten zu sich berufen und bei sich bewahrt hat. Jeder Franzose, der sich auszeichnet, ist die­ sem Konzentrationslager geweiht. PARIS beschwört ihn, zieht ihn an, fordert und verzehrt ihn auch manchmal.« (A.a.O., S. 1014f.) 7 Valery, La Liberte de l'esprit, a.a.O., S. 1093. Auf den folgenden Seiten macht Valery beiläufig und auf eine et­ was elliptische Weise eine Bemerkung, die mir hier von großer Tragweite zu sein scheint, vorausgesetzt, man geht ihr konsequent nach und folgt ihr in eine Richtung, die vielleicht über das von Valery Gemeinte hinausführt: »[ ... ] die Idee der Freiheit kommt bei uns nicht an erster Stelle; immer dann, wenn man sie beschwört, wird sie eigentlich herausgefordert; ich meine damit, daß sie im­ mer eine Antwort ist.« (A. a. O., S. 1095) . 8 Die Logik dieses Textes ist auch eine Analogik. Sie hängt im Grunde von einer asymmetrischen Analogie zwischen Geist und Wert ab. Der Geist ist wohl nur ein Wert(trä­ ger) wie andere Wert(träger) auch ­ wie Gold, Weizen oder Erdöl­, doch ist er zugleich die Quelle des Wertes selber. Er ist der überschüssige Wert, der absolute und folglich erhabene Mehrwert dessen, was keinen Preis hat. Der Geist ist eine Kategorie der Analogie und die Bedin­ gung, die aus der Reihe schlägt und ihr nicht zugehört, das Transzendentale und Transkategoriale der Ökono­ mie. Er ist ein Beispiel und ein beispielhaftes Beispiel, das Beispiel aller Beispiele. Es gibt kein anderes Beispiel. Da Valery dies selber sehr deutlich zum Ausdruck bringt, begnüge ich mich damit, einige Stellen anzuführen und sie um jenes, was er beinahe beiläufig den »kapitalen Punkt« nennt, zu sammeln: »Es ist ein Zeichen unserer Zeit [ ... ], daß es sogar dringend erscheint, die Geister für das Schicksal des Geistes zu interessieren, also für ihr eigenes Schicksal [ ... ] Sie haben dem Geist vertraut; doch welchem Geist? Was meinten sie mit diesem Wort? 73 ... Dieses Wort kann man nicht aussprechen, da es den Ursprung und den Wert aller anderen evoziert.« Weil der Geist dem innewohnt, was er nicht ist, weil er in den Werten anwesend und gegenwärtig ist, die sich nicht an ihm messen können und die nicht so wertvoll sind wie er, vermag er, ohne ein Risiko einzugehen, in Analogie zu treten, er vermag einzutreten in den Parallelismus der Ökonomie und in die Ökonomie des Parallelismus, zwi­ schen Kapital und Kapital. Er ist »genau das«, der »kapi­ tale Punkt«, die Sache selbst, die sich im Sinne der beiden Register oder Ordnungen der Analogie aufteilt. Zum Beispiel: »Ich habe, wie mir scheint, von dem Kursfall und dem Zusammenbruch der Werte unseres Lebens gespro­ chen, die sich vor unseren Augen vollziehen; mit dem Wort >Wert< habe ich dabei in einem einzigen Ausdruck und unter demselben Zeichen die Werte materieller Art und die Werte geistiger Art einander nähergebracht. Ich habe von >Werten< gesprochen, und genau davon möchte ich sprechen. Dies ist der kapitale Punkt, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Wir stehen heute einer wahrhaftigen, ungeheueren Umwertung aller Werte gegenüber (erlauben Sie mir, Nietzsches ausgezeichneten Ausdruck an dieser Stelle zu bemühen). Indem ich diesen Vortrag den Titel ­Die Freiheit des Geistes­ gegeben habe, habe ich einfach auf einen jener wesentlichen Werte hingewiesen, die heute das Schicksal der materiellen Werte zu ereilen scheint. Ich habe also vom >Wert< gesprochen, und nun be­ haupte ich, daß es einen Wert gibt, der ­Geist­ genannt wird, so wie es Werte gibt, die man als Erdöl, als Wei­ zen oder als Gold bezeichnet. Ich habe von Wert gesprochen, weil Abschätzung und Beurteilung der Bedeutung im Spiel sind, und weil 74 man über den Preis sich streitet, den man bereit ist, für diesen Wert zu zahlen: den Geist. [ ... ] der unglückliche Wert des Geistes fällt unauf­ hörlich im Kurs [ ... ] Sie bemerken, daß ich mich der Börsensprache bediene [ ... ] Häufig bin ich nämlich überrascht worden von den Analogien, die ­ obwohl man sich überhaupt nicht um sie bemüht ­ zwischen dem Leben des Geistes und seinen Erscheinungen einerseits und dem wirtschaftlichen Leben und seinen Manifestationen andererseits entstehen [ ... ] In beiden Fällen, im wirtschaftlichen und im geistigen Leben, trifft man auf die Begriffe der Produktion und der Kon­ sumtion. Auf beiden Seiten lassen sich auch das Kapital und die Arbeit ausmachen; eine Zivilisation ist ein Kapital, das ­ wie gewisse andere Kapitalien auch ­ über Jahr­ hunderte hinweg anwachsen kann; es schöpft dabei seine eigenen Zinseszinsen ab.« (CEuvres II, a. a. 0., s. 1077­1082) Valery betont, was er sagt; er wehrt sich dagegen, mit den Mitteln bloßer »rhetorischer Kunstgriffe« einen »rnehr oder weniger dichterischen Vergleich­ zwischen der materiellen und der geistigen Ökonomie anzustellen. Um sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen, muß er den zugleich ursprünglichen und transkategorialen Charak­ ter des Geistbegriffs behaupten, der die Analogie ermög­ licht und ihr deshalb nicht einfach zugerechnet werden darf. Ebensowenig wie der Logos schlichtweg in der Ana­ logie enthalten ist, an der er teilhat. Valery macht eigens darauf aufmerksam, daß der Geist buchstäblich Logos, Wort, ist, jenseits bloßer Rhetorik. Dieser ursprünglich­ eigentümliche Spiritualismus stellt sich so als Logozen­ trismus dar. Genauer noch: Logozentrismus, dessen Ge­ burtsort das mediterrane Becken ist. Wiederum erweist es sich als zweckmäßig, den Text zu zitieren. Valery hat sich 75 gerade gegen den Vorwurf gewehrt, mit rhetorischen Kunstgriffen von der materiellen Ökonomie zur geistigen übergegangen zu sein; nun hebt er folgendes hervor: »Denkt man darüber nach, so handelt es sich im Grunde genau um das Gegenteil. Es ist der Geist, der angefangen hat ­ es konnte gar nicht anders sein. Der Handel des Geistes ist zwangsläufig der erste Handel dieser Welt; der erste, also jener, der angefangen hat, der notwendig anfänglich ist. Denn bevor man Dinge tauscht, muß man wohl Zeichen austauschen und darum eine Zeichensprache einrichten. Es gibt keinen Markt, keinen Austausch ohne Sprache. Das erste Mit­ tel allen Verkehrs ist die Sprache. Wenn man ihm einen entsprechend veränderten Sinn verleiht, kann man hier das berühmte Wort wiederholen: .Im Anfang war das Wort.< Das Wort mußte dem Akt des Handelns voraus­ gehen. Das Wort aber ist nichts anderes als einer der angemessensten Namen für das, was ich den Geist ge­ nannt habe. Geist und Wort erweisen sich in ihrem Gebrauch beinahe als Synonyme. Das Wort, das die Vulgata mit Wort übersetzt, ist die griechische Vokabel ­logos., die mehrere Bedeutungen hat: neben der Be­ deutung des Ausdrucks hat es die der Berechnung, der Überlegung, des Wortes, des Diskurses, der Erkennt­ nis. Ich glaube daher nicht, daß ich mich einer Häresie schuldig mache, wenn ich sage, daß das Wort mit dem Geist zusammenfällt ­ auch in sprachlicher Hin­ sicht.« Nichts überrascht uns folglich weniger als der Umstand, daß das »Logische« und das »Historische« sich hier ent­ sprechen und untrennbar sind: »Es ist nicht allein logisch notwendig, daß es sich so verhält; man kann dies auch historisch belegen.« Jene »Gebiete des Erdballs«, die günstige Bedingungen für den Handel geboten haben, sind ebenfalls die Gebiete, die Orte, an denen die »Werte des Geistes« sich »vorzeitig enrwickelt« haben, an denen sie »am fruchtbarsten und verschiedenartigsten« waren und an denen man »dern Geist die größte Freiheit zugebil­ ligt« hat. Der Ausdruck »Markt« taucht regelmäßig auf (mindestens dreimal auf zwei Seiten; vgl. CEuvres I, S. 1005 f.). Er taucht dann auf, wenn es darum geht, Eu­ ropa zu definieren, »unser Europa, das auf einem medi­ terranen Markt Handel treibt«, Europa, »dieser bevor­ zugte Ort«, der »europäische Geist« der »Vollbringer dieser Wunder«. Das beste, eigentlich das einzige Bei­ spiel, das man hierfür anführen kann, das Beispiel, das sich am wenigsten durch ein anderes ersetzen läßt, ist das Beispiel des mediterranen Beckens; das »Beispiel«, das es uns »geliefert« hat, ist einzigartig, beispielhaft und unver­ gleichlich. Es ist also nicht einfach ein Beispiel unter anderen: Logos und Geschichte kann man nicht mehr trennen, weil dieses Beispiel das »prägendste und über­ zeugendste« ist (CEuvres II, S. 1084f.) 9 Valery, CEuvres II, S. 1058. Wundern wir uns nicht dar­ über, daß Valery genau in diesem Zusammenhang auf die Philosophie zu sprechen kommt und dabei nachdrück­ lich zwei Aussagen oder Züge, die man häufig dissoziiert, zusammendenkt: Der nationale Zug und der formale Zug sind in der Philosophie ­ in ihrem Diskurs und in ihrer Sprache ­ unablösbar voneinander und irreduktibel. Der Gedankengang, der sich auf diesen Seiten findet, folgt höchst gewundenen Wegen und verdient deshalb mehr als bloß eine Anmerkung. Es geht immer noch darum, »Frankreich zu sichten und dessen Rolle oder Funktion bei der Bildung des Kapitals des menschlichen Geistes ins Auge zu fassen« (a. a. 0., S. 1047 f.; Hervorhebung von mir, J. D.). Halten wir uns an eine schematische Darstel­ lung: Valery verleiht der Aussage, die den nationalen Zug zum Gegenstand hat ­ den Zug, durch den die Philoso­ phie stets sich auszeichnet ­ die Gestalt des Zugeständnis­ 77 ses und der Hypothese: »es ist nicht auszuschließen, daß ... «, »es ist sehr gut möglich, daß ... « Genau dann aber, wenn er die französische Philosophie als ein beson­ deres Beispiel in Betracht zieht, unterstreicht er den for­ malen Zug und postuliert eine entsprechende These. Man könnte diese von ihm aufgestellte These als formalistisch bezeichnen, fürchtete man nicht, den Dingen einen feste­ ren Umriß zu verleihen und jenen ein billiges Argument zu liefern, welche die der Form, der Sprache, der Schrift, der Rhetorik oder dem »Text« geschenkte Aufmerksam­ keit mit einem subjektiven Formalismus und einem Ver­ zicht auf den Begriff verwechseln. Man muß den natio­ nalen und dem formalen Zug Rechnung tragen können, ohne sich dem Nationalismus oder dem Formalismus zu verschreiben ­ man muß dies mit dem Ziel tun, eine ge­ schickte Strategie zu entwickeln, die es erlaubt, gegen Nationalismus und Formalismus Widerstand zu leisten. So interessant sie auch sein mag: Die Valerysche Strategie scheint mir nicht geeignet zu sein, die beiden Klippen zu umschiffen. Die nationale Hypothese überstürzt sich und verwandelt sich in die These des nationalistischen Subjek­ tivismus. Die formalistische These dient einzig diesem Zweck, sie fördert die Überstürzung und Verwand­ lung. Erstes Moment, die Hypothese. »Das abstrakte oder ­reine­ Denken richtet sich ­ wie das technische Denken ­ darauf aus, jenes verschwinden zu lassen, was dem Den­ ker von seiner Nation oder Rasse zukommt; es trachtet nämlich, Werte zu schaffen, die von Ort und Person un­ abhängig sind. Sicherlich ist es nicht ausgeschlossen, in einer bestimmten Metaphysik oder in einem bestimmten Moraldenken das zu erkennen oder vermeintlich zu er­ kennen, was einer Rasse oder einer Nation eigentlich zugehört. Zuweilen scheint sogar nichts besser dazu ge­ eignet zu sein, eine Rasse oder eine Nation zu bestimmen, als die Philosophie, die sie hervorbringen. Man versi­ chert, daß manche Ideen zwar in ihrem Ausdruck die Form der Allgemeinheit und des Universellen aufweisen, doch außerhalb des Klimas, in dem sie aufgekommen sind, nicht begriffen werden können. Im Ausland gehen sie ­ entwurzelten Pflanzen gleich ­ zugrunde oder wer­ den dort wie Ungeheuer gemustert. Dies ist durchaus möglich.« (CEuvres II, S. 1055) Zweites Moment, die These. Bevor wir daran erinnern, bevor wir hervorheben, daß die These als ein »Gefühl« vorgetragen und von einer um ­Entschuldigung« hei­ schenden Parenthese eingeleitet wird, vergegenwärtigen wir uns das Datum, das diese Seiten tragen: 1939. An diesem Vorabend des Kriegsausbruchs, an dem die natio­ nalistische und rassistische Beredsamkeit sich entfesselt und heftiger denn je über Europa hereinbricht, mäßigt Valery seine Aussagen zu Philosophie, Rasse und Nation: Er sieht sie als Hypothesen an. Er entschuldigt sich auch dafür, daß er dort, wo er im Namen seines »Gefühls« und der Philosophie als »Angelegenheit der Form« redet, eben die Form wesentlich an die Nationalsprache bindet, besonders und auf beispielhafte Weise an die französische Sprache: »In meinen Augen (ich entschuldige mich für dieses Gefühl) ist die Philosophie eine Angelegenheit der Form. Sie darf keinesfalls mit der Wissenschaft gleich­ gesetzt werden; vielleicht muß sie sich von jeder bedin­ gungslosen Bindung an die Wissenschaft lösen. Ancilla scientiae zu sein ist für sie ebensowenig vorteilhaft wie ancilla theologiae zu bleiben [ ... ] Ich behaupte nicht, daß ich recht habe: denn damit wäre nichts Sinnvolles ausgesagt. Ich behaupte [ ... ] daß das Wesen, das diese Sprache spricht und sich in dieser Sprache an sich selber richtet, nicht über deren Möglichkeiten hinausgehen kann und sich den Eingebungen und Assoziationen 79 nicht zu entziehen vermag, die sie auf heimtückisch­ verfängliche Weise birgt. Wenn ich ein Franzose bin, entsteht mein Denken­dort, wo es sich aufbaut und zu sich selber spricht ­ auf französisch; es bildet sich auf­ grund der Möglichkeiten, die das Französische bietet, innerhalb des französischen Sprachapparats.« (Ebda.) Es folgen eine Analyse, eine Interpretation und eine Be­ wertung jener Möglichkeiten; ich werde mich hier nicht darauf einlassen. Ich beschränke mich darauf, die Schluß­ folgerungen zu zitieren, welche die Philosophie angeht ­ sie mag uns nämlich heute zum Denken anhalten, im Sinne des Autors und gegen ihn: »In Frankreich muß man für den Erfolg einer Philosophie diesen Preis zahlen. Ich meine nicht, daß es keine Ideengebäude geben kann, die diesem Prinzip nicht entsprechen: ich meine, daß solche Ideengebäude nicht wirklich und gleichsam organisch dem Prinzip sich fügen. Auch in Politik und Kunst stoße ich auf analoge französische Reaktionen.« (A. a. 0., S. 1056; Hervorhebung von mir,J.D.)