Subido por aruidrejo

Goldscheid Frauenfrage und Menschenokonomie

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FRAUENFRAGE
UND
MENSCHEN KONOMI
VON
RUDOLF GOLDSCHEID
llnzengruber-Verlag Bruder Suschitzkg
Wien - Leipzig
arum wehrt man sich eigen tlich heute noch gegen die E rweiterung der ·Frauenrechte ? Weil man darin eine Gefahr
fiir die Entwicklung der Gesellschaft erblickt ?
Weil die
intellektuellen Leistungen des Weib es nicht auf der gleichen H ohe
stehen , wie di e des Mannes ? Weil das weibliche Geschlecht zu
wenig produktive Genies hervorgebracht hat? Weil m an fiir die
organische und generative Tuchtigk eit der Frau ftirchtet, wenn sie
genotigt wird, in den K ampf urns Dasein hinauszutreten , den K onkurrenzkampf mit dem Manne in voller Wucht aufzunehmen ?
Und erfiillt uns et wa die Dberzeugung, daB die F rau in ihren
Bestrebungen unterli egen wird! Oder sind wir nicht vielmehr gewiB,
daB di e Frau kiinftig in der Gesellschaft eine ganz an de re Ste llung
einnehme n wird, und daB die Gesellschaft trotz dieser verande rte n
Ste llung des weiblichen Geschlech ts , ja gerade durch sie weite r
fortschreiten wird?
Welche schwer en Gefahren fur die Sittlichkeit der Stude nte n
h at man ehem als nicht vo rausgesagt, wenn auch den Frauen die
Universitaten geoffnet werden ! Und was ist von allen diesen Befiirchtungen Wirklichkeit geworden? Nichts ! Es ist damit genau
so gegangen wie mit den Eisenbahnen. Noch heute hangt im Britischen Museum das Gutachte n eines Medizinalkollegiums, das
schwerste Sch aden fiir die ko rperli che Gesundheit der Menschen bei
Einfiihrung der Eisenbahnen prophezeit. Und es hangt dort als
Dokument menschlicher Beschranktheit l Wiirde m an heute daran
gehen, ein F r a u e n m u s e u m zu eroffne n - und die Zeit ware
scho n reif fiir die Aus fuhrung dieses Gedankens - dann konnte
man dort bereits mancherlei Kuriosa ausste llen, deren selbst die
Antifeministen unser er T age sich schamen wiirden.
Die H altung, die die Gegenwart den Frauen gegeniiber einnimmt, ist t atsachlich nur aus Einem heraus zu b egreifen, aus jenem
soziologischen Gesetz, das A I f r ed Vie r k a n d t als "Stetigkeit im Kulturwandel" bezeichnet. Man kampft gegen alles weiter,
wogegen man lange J ahre gek ampft hat. Es ist das geistige Tragheitsprinzip, aus dem aIle Geschichte zu verstehen ist. Und wo
gar Denkgewohnheiten in s e e 1 i s c h en S e ins g e w 0 h n h e i t en wurzeln, die mit egoist ische n Interessen historisch verwach sen sind, da t ritt eine Art von org anischem und sozi alem Be-
W
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Rudolf Goldsch eid : Frau enfrage und Mensch en6k on om ie
h arrungszustand zutage, gegen den ve rnunft gemiiBe Einsichten
zunachst ganz vergebens ankampfen , Es ist den Menschen unserer
Tagedeshalb auch noch nicht gelungen , sich vo llig in das Wesen
'der modernen Welt hineinzuleben. Unser Denken vermag noch
riich t gleichen Schritt 'zu halten mit dem Taschen Wechsel der
realen Verhalt nisse, der unser e Zeit charakterisiert. Wir sind noch
au relative Konstanzder 'Wirk lichkeit angepaBt, wa hre n d heute
die Umgestaltung unserer Existenzbedingungen sich in eine m Tempo
vollzieht, dessen Schnelligkeit weit tib er d as hinausgeht, was je
vorher beobachtet 'werden konnte. Ab er wie in dem bertihrnten
alten Sophism a na chzuweisenversucht wird, daB Achilles di e Sch ildkrote nich t einho len ikann , so bemiihen wir uns interessanterweise
allenthalben, Institutionen aufrechtzuerhalten, ja neu auszubauen,
die bewirken, daB wir dem Leb en mit unser em Denken und H andeln
nicht n achkommen konnen. Wir sind hierin schlimmer als die alten
'Sophisten, die 'sich begniigten , ihren beschrankten R ation ali smus
a u f d e m P ap i e r ad absurdum zu fiihren. Wir Menschen der
Gegenwart, die durch weitaus gr aBere Aktivitat ausge zeichne t sind,
als je eine Generation vor uns, wir sind in vielen Beziehungen trotzdempraktische Sophisten, Sop his t e n d e r T at geword en . Und
wirhaben fiir diese neue Art des Sophismus auch eine vollklingende Bez eichnung gefunderr: wir nennen sie " Re alpolit ik ". Eine
Realpolitik, ahnlich der der alte n R omer , die iiberlegten und immer
wieder iiberlegten, wahrend Sagunt schon mit v oller Kraft belagert
wurde.
Wir erbauen uns an dem alten Kernwort: " Die Frau gehort
ins Haus! "und sehen nicht, daB dieses H aus vo n der machtigen
Zeitstromung schon langst fortgeschwemmt wurde, daB wir nichts
getan hab eri, es zu erhalten, daB wir in kein er Weise bemiiht sind,
der Frau ein neues, den neuen Verhaltnissen en tspreche ndes H eim,
das 'heiBt ein den modernen Existenz- und Entwicklungsbedingungen entsprechend geschutztes und zugleich freies Sein und Werden zu: schaffen. Un d wenn gegen die Erweiterung der Frauenrechte, gegendie Erteilung des Frauenstimmrechtes eingewendet
wird, die geistigen Leistungen des Weib es stiinden unter denen des
'Mannes, und wir so' die W age der Ger echtigkeit zuriickweisen mit
der Wage,' au f der wir di e 'Gehirne 'von Mann und Frau abwiigend
vergleichen, in ' welchem ve raltete n R ationalismus bleiben wir da
befangen! Wird denn das W ahlrecht heute noch nach geistigen
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Rudolf. Goldscheid : F raue n frage und Menschen okonomie -
J
Leistungen abgestuft? Wird der EinfluB, der irgend einer .Gruppe
in der Gesellschaft zuerkannt wird, bem essen nach der Summe
von p roduktiven Genies, die aus ihr hervorgeht ? Doch kein eswegs ! R e c h t e s i n d n i c h t d a s A qui va l e n t v o n
g ei stig en L ei stung en,s ond ern da s vo n L eis t u n ge n ii b e r h a u p t , si e s i n d d a m i t zu gl eich
das Aquiv al ent von Bedu rfniss en , von E r f o r d erniss en und vo n d er Kraft und Z ahigk eit ,
mit we l c he r di e s e sich g elt end zu mach en wiss en, a 1 sod a s A qui v al e n t von Ma c h t P o.s i t i on e n .
R atte jemals eine Kl asse auf die Erfullungihrer F orderungen darauf
gewartet, bis man sie geistig reif fiir diese erklar te, sie hatte sich
mit der Erlangung dieses R eifezeugnisses bis in die Unendlichke it
gedulden miissen. Nein, Rechte erhalt eine Kl asse nicht, sobald
die Menschen , die sie zusammense tzen, in jeder Hinsicht reif dazu
geworden sind, sondern sobald sie Starke genug haben, sie mit suggestiver Macht durchzusetzen , sowie die Verhaltnisse reif geworden
sind fiir die fundamentale Umgestaltung des Lebens, aus der jene
Rechte orga nisch hervorsprieBen. Un d vo l 1 k 0 m m ~ n wa c h s t
m an in R echt e e rs t hi n ein , sow ie man s ie h at ;
f u n k t i on e 11 e rw i r b t ma n di e h o c h s t e R ei f e · f ii r s ie.
Wenden wir darum auch in der Frau enfrage den Blick von
den Menschen weg und auf die Verhaltnisse hin! Man spricht von
den F orderungen der Frauen und will von diesen . nichts horen.
Und es ist sogar schon ein groBer F ortschritt, daB man davon
spricht ; denn es ist nicht allzu lange her , daB die Mehrzahl der
Manner unter der Frau enfrage nichts wesentlich anderes verstand,
als das , was et wa Don J uan vorschweb te, wenn die F rauenfrage ihn
beschaftigte. Aber selbst wo wir die Frauenf rage nicht allein aus
unseren sex uellen Instinkten heraus betrachten , sondern scho n der
F rau als Mutter gerecht zu werden versuchen , bleib en wir noch an
der Ob erfl ache des ganzen Problems haften und sehen nicht, daB
die Frau enfrage weit mehr ist als bloB eine Frauenfrage, daB in ) hr
eines der ti efsten Probl eme nach Losung ringt, ein gesellschaftliches Problem , das aus dem Zentrum des Entwicklungsprozesses
seIbe r hervorwachst. Wir hab en bish er ebe n noc h nicht gelernt,
auch wo der Mensch in Frage kommt, streng sachlich zu denken.
Deshalb bleib en wir noch immer dab ei stehen , bestenfalls bloB zu .
fragen, .was die Frauen ford ern, statt eingehend zu untersuchen ,
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"
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Mens che no konornie
was di e Verh altniss e von den Frauen ford ern,
und ob es nicht unsere Aufgabe ware, den F rauen sogar neue R echte
auf z u z win g e n, auch wenn sie seIber diese gar nicht verlangen wiirden .
Wie machen es denn die Eltern mit ihren Kindern, sobald
diese ein bestimmtes Alter erre ichen ? Sie weisen sie darauf hin,
daB sie sich nun auf eigene FiiBe zu stellen hab en, daB sie selbstandig
den Kampf mit dem Leben aufnehmen miissen, und klaren sie
tiber die neuen Pflichten und Rechte auf, die ihre neue Situation
ihnen auferlegt. Ganz ahnlich ist es mit der Stellung der Frau
in der modernen Gesellschaft beschaffen. Sie muB die Existenzbedingungen, in die die Gegenwart sie hineinversetzt, hinnehmen
und die neue Anpassungsarbeit leisten, die diese geb ieterisch von
ihr verl angen . Urn hierfiir aber entspreche nd ausgeriistet zu sein ,
muB sie, ob sie will oder nicht, darauf hinstreben , aIle jene Voraussetzungen zu schaffen , die unentbehrlich sind, solI der Gesellschaft
aus der ver anderten sozialen Funktion der Frau kein schwerer
Schaden erwachsen.
Aus den Ziffern der Statistik konnen wir es mit Offensichtlichkeit ent nehmen, wie die Frauen, die ledigen ebensowohl wie die
verheirateten, in stets wachsender Anzahl in das Erwerbsleben
hinausgedrangt werden, und wir konnen uns keinem Zweifel dariiber
hingeben, daB diese Tendenz sich mit All g e w a 1 t im Mech anismus des Gesellschafts- und Wirtschaftsprozesses geltend macht.
Kein einsichtiger Soziologe wird glauben , daB wir auf diese Tendenz
in absehb arer Zeit einen wesentlichen EinfluB auszuiibe n in der Lage
sein werden. Wir hab en vielmehr nur die Wahl, den Frauen ihren
notwendigen AnpassungsprozeB zu erleichte rn oder zu erschweren.
Nichts Torichteres kann es darum geben, als 7.U mein en , es liege
an der Frau seIber , in der Alternative " Mutterschaft oder Beruf"
die Entscheidung zu treffen. Und ebensowenig wie die Frau diese
Entscheidung treffen kann, ebe nsowenig ve rmag dies der Mann.
Und auch sozial sind wir heute noch nicht so weit, dariib er praktisch etwas ausmachen zu konnen . Hier wachsen aus dem Untergrund des Kulturprozesses historische Triebkrafte von einer Macht
hervor, an der einstwe ilen aIle menschliche Willkiir noch zerschellt.
Auch schon wegen der Uberzahl der Frauen im heiratsfahigen Alter
gegeniiber den Mannern l Unsere gesamte wirtschaftliche Betatigung,
unsere gesamte Kulturarbeit ist deshalb so beschaffen, daB wir
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Rudolf Goldsch eid: F raue n fr a ge und Men sch en ok on ornie
gege nwar t ig ganz au Berstan de sind, auf die Verwertung der weiblichen Arbeitskrafte zu verzichten , und noch weniger sind wir bei
dem gegenwartigen Stande der Produktionstechnik in der Lage,
der F rau das H aus im altgewo hn te n Sinne zu erhalten . Di e Art
der geschlechtlichen Arbe its te ilung ha t sich ebe n in der Gegenwart
vo n Grund auf umgestaltet. Desh alb ist auc h das Schlagwort
" Mu tterschaft 0 d e r Beruf" als Anachronismus zu betrachten.
D as Problem, das unser er Zeit zur Losung gestellt ist, k ann vielmehr nur lauten : Welche Verhaltnisse miissen wir schaffen, urn der
Frau die optimale V e re i n i gun g von M u t t e r s c h a f t
u n d B e r u f zu ermoglichen ?
Es war die geniale Verfasserin der "Kritik der Weiblichkeit" ,
R 0 saM a y r ed e r , di e darauf hinwies, daB die An fange der
Frauenrechte' nicht vom Manne als Geschlechtswesen , sonde rn
vorn Manne als Vater ihren Ausgang nahmen , und daB besonder s
die sexue lle Gebundenheit des Mannes ebe nso wie di e des W eib es
in den Vaterinstinkten ihren Ursprung hat. Und auch in der Gegenwa rt konnen wir beobachten , daB die machtigste Forde rung , die
den weiblichen Emanzipationsbestrebungen zuteil wurde, darau s
erfloB, daB die Frauenfrage zugleich eine T a c h t e r f r a g e ist.
In wie zahlreichen F allen zeigt sich uns heute, daB der Beruf der
Frau di e Voraussetzung ihrer Ehemoglichkeit ist ! Sie muB berufstatig sei n, b e v 0 r sie eheliche Mutter werden kann, und sie muB
im Berufe verbleibe n, urn ihren generativen Aufgaben vo lla u f geniig en zu konnen. Mutterschaft ohne Beruf ist in der Mehrzahl
der F all e heute schon zu eine m Luxus geworden. Man schlieBe
d araus, welche un absehbaren Folgen es nach sich ziehen muB , wenn
die Gesellschaft di esen T atbestand gewaltsam zu ign orieren sucht,
statt alle H eb el in Bewegung zu setzen, urn der F rau die Vereinigung
von Mutterschaft und Beruf in solchem MaBe mit allen Mitteln
zu erle ichte rn, daB ihre Erwerbstatigkeit sie nicht in ihrer Tiichtigk eit als Mutter beeintrachtigt.
Und d amit sin d wir bei dem Einwande ange la ngt , der heute
der a usschlaggebe nde in der Bewertung der Forde rung n ach erweiterten Frauenrechten ist. Man ve rweigert sie mit der Begriindung , daB ih re Erfiillung die organische und ge nerative Tiichtigkeit der Frau gefah rde n miiflte, Das ist ein Einwand, wie man
sich ihn b esser nicht wiinschen konnte o Ls t e s w i r k 1ic h di e E r w eit erung d er Fr au enrecht e, di e di e R ass e g e-
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Ru dolf Goldscheid: Frauenfrage und Mens chenok on orn ie
f a h r d e t ? Oder ist e s nicht vi elm ehr umgek ehrt
di e Db ersp annung d er Frau enpflichten in d er
G eg enw art , di e uns ere Zukunft in h o c h s t e m
M a Be b ed r 0 h t ? Ein grobes Beispiel : Der Landwirt weiB
es langst, daB er die Kuh nicht zugl eich als Arbeits tier verwenden
darf, wenn er den hochsten Milchertrag von ihr erzielen will. Und
ebenso fallt es keinem Ziichter ein, Stuten, die er zur Zucht verwendet, weiter R ennleistungen zuzumuten. Nur hinsichtlich des
Menschen hat man sich noch nicht zu dieser niichternen Auffassung
der Dinge aufgeschwungen, hier schwelgt man in ausschlieBlich
ethischer oder politischer Behandlung all der Fragen, die, gleichsam nur m 0 r eo r g ani co angesehen, richtig beurteilt werden
konnen .
Wir klagen heute tiber den Rtickgang der Geburtenziffern,
machen di e Einzeln en fiir diese "Degeneration" verantwortlich,
ohne uns zu fragen , ob hier wirklich eine Degeneration vorliegt,
ohne uns zu BewuBtsein zu bringen , daB auch die R ep rod u k t i on e in s 0 z i a le s A n pas sun g s p han 0 men darstellt.
Ein Gebiet nach dem andern haben wir der R ationalisierung unterwoden, die Menschenproduktion unterstand am langsten der rein
triebmaliigen Regulation durch Hunger und Liebe. Mit der ste igenden Bildung der breiten Massen hob sich aber auch deren N a c h w u c h s v e r a n t w o r t 1 i c h k e its g e f ii h 1.
Der geh obene
Mensch setzt nicht mehr planlos Kinder in die Welt, ohne sich zu
fra gen, ob er diese auch zu ernahren und entsprechend aufzuziehen
vermag.
Dam it lockert sich aber der g e n e ra t i v e Aut 0 mat i s m u s , und er lockert sich vom Weib e her in noch weit hoherem
MaBe als vom Manne aus . Die auBer H aus erwerbstatige Frau
ist nicht imstande, die gleiche n Geburtenziffern aufzubringen, wie
die Frau der Vergangenheit, die, wenn ich so sagen darf, h au s e i g e n war. Und nicht nur, daB sie es nicht vermag, sie will es
auch nicht und kann es nicht wollen. Sie kann es nicht wollen,
wenn sie erst zu m BewuBtsein ihrer Lage gelangt und erkennt ,
daB sie im wichtigsten Zweige der wirtschaftlichen Produktion tatig
ist, wenn sie sich also als M en s c h en pr o d u z en tin ent deckt .
Sie ahnt dann, daB sie es ist, die aufzukommen hat fiir alle leichtfertige Vergeudung von Menschenlebe n, daB sie es ist, die die Kosten
des jeweiligen Menschen verbrauchs, der unsere Kulturerrungen8
Rudolf Goldseheid: F rauen frage und Men schen okonomie
schaften begleitet, zu tragen , ja auszu t ra gen h at. Jedes ersparte
Menschenleben setzt sich in baren Gewinn fiir die Frau urn , sie ist
desh alb die d ir e k t e s t e Nut z n i e Bel' i n d el' Me n s c h en AIle Zeiten .bisher war die Frau z u un f r u c h t o k 0 n om i e.
b a I' e r F r u c h t b ar. k e i t verurte ilt. Ihr generat iver Dienst
wa r D an aiden arbeit. Weil wir un sere kulturellen Errungensch aften
mit einem zu hohen Mensche nverb rauch erzielte n, muBte sie sich
aufre ibe n in iiberstiirzten Wochenbetten , muBte sie zum Untergang bestimmte Lebewesen an die Finsternis, statt an das Licht
der Welt setzen . " Die Mutter, trifft's mich doch immer wie ein
Schlag , was ist das Wort, daB ich 's nicht horen mag!" so miiBte
auch die moderne Gesellschaft ausrufen, wenn sie ehrlich mit sich
zu Gerich t gehen woIlt e, wenn sie del' Selbsterkenntnis nicht feig
aus weichen wiirde, die ihr zu BewuBtsein bringt, daB auch unsere
Zeit sich noch fortgesetzt s o z i a 1 des V el' b I' e c h en s am
k e i m en d en L e b en schuldig macht, so un erbittlich sie auch
die einzelnen Individuen fiir di eses st raft.
E s war das F ehl en del' Me n s c h en 0 k 0 n om i e *) neben
del' W aren ok onomi e, welche das weibliche Geschlech t zum "oversexe d sexe" herabdriickte, die das Weib ve rhinde r te , an jener Emanzipation del' P ersonlichkeit vom Ga ttungsproze B teilzunehmen ,
die im Aufstieg des Organi schen iiberall zum Ausdruck k ommt ,
die die bedeutendste Erscheinung in del' Geschi chte del' Individualitat darstellt. Auf einer je h oher en Stufe del' Entwicklung ein
Lebewesen steht, desto mehr k ommt es bei ihm neben del' Erhaltung
del' Art auch a uf die Erh altung des Individuums an. Nur bei t iefste hende n Arten bildet in erste r Linie die Qu a n tit a t des
N achwuchses di e Basis del' E xistenz. Hochstehende Arten erhalte n
sich ste ts VOl' allem durch die Qua 1 i t ii t del' Individuen . Betrachten wir besonders den MaBstab, an dem wir jeweils das erreichte Niveau des Menscheng eschlechtes und namentlich das del'
Kulturvolker beurteilen , so konnen wir nicht daran zweifeln, daB
wir unser e Stellung VOl' allem sowohl nach del' Art d el' E r hal tun g wie danach bem essen , in welchem Umfange d a s e i nz e 1 n e In d i v i d u u m durch die soziale Gesamtleistung in sein er
. *) In m einer
19 0 8
ersehienenen P rogramms ehrift
"E n t w i e k I u n g s -
w e r t t h e 0 r i e , E n t w i e k I u n g s 0 k 0 no m i e . Men s e he n 0 k 0 nom i e"
p riig te ieh zue rs t diesen neuen Begr iff und su eh te -d as n e ue Gcbiet im Grundr iB abz us teeken.
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Rudolf Goldsche id : Frauenfrage und Me nsche noko nom ie
Existenz gesichert ist. In di e s e m S inn e k a n n man von
einem Individualismus i n all er Entwicklung
s pr e c h en.
Wir wissen, daB die Preise aller Giiter sic h nach Angebot
und N ac hfrage richten. J e seltene r ein begehrtes Gu t ist, desto
h oh er schatzen wir es, dest o sparsamer geh en wir damit urn. Und
alle W erte h atten bisher di e T endenz, sich in der Richtung der Preise
zu b ewegen.
Es w ar ein Irrtum, wenn m an annahm, daB der Men sch in
di eser Bezi ehung eine Ausnahme mache. Wohl h at K ant mit Emphas e gerufen: "AIle Dinge au f Erden haben eine n P re is, eine n
Marktpreis, der Mensch all ein hat Wiirde !" Ab er K ant hat leider
nicht beachtet, daB di eser Umstand zu all en Zeiten das Ve rhangnis
des Menschen gewesen ist. In Wirklichkeit hat auch der Men sch
eine n Preis , eine n Marktpreis, und einzig und allein nach der H oh e
di eses wurde er bisher geschatzt. Seine Men schenwiirde k am 0 k 0 nom i s c h nicht in Betracht. Solange d aher di e R eproduktionsv erhaltnisse es ge stattete n, den Menschen als ein im Uberfluss e
vorhanden es Gut zu betrachten, wurde auch sein oko no m ische r
W ert gering eingeschat zt .
D as Sinken der Geburtenziffern schafft deshalb eine n fund arn e n t a l en Wan d el in den gesamten Gesellschaftsverhaltnissen , und die Bed eutung di eses Wandels k ann nur dort iib ersehe n werden, wo durch di e gleichzeitige Senku ng der Ste rblich keitsziffer der GeburteniiberschuB trotzdem ein relativ hoh er bleibt.
Aber selbst, wo ein solcher noch v orhanden ist, tut m an gut d aran ,
nicht aus dem Auge zu verlieren, d aB ganz an dere Existenzbedingungen und Gesellschaftsverhaltnisse heraufkommen , wenn der Bevolkerungszuwachs durch d as Sinke n der Ste rberate, st a tt wie
bisher durch die H oh e der Geb urte nrate garantiert wird. E sis t
j a auch ganz kl ar , d a B d er Pr oz eB d er G attungse r ne ue r u n g sich we i t au s o k o n o m i s c h e r voll zi eht, w enn mi t ge r i ngere m g en er ativ en Umsatz
d e r g l ei c h e g e n e ra t i v e Nut z e f f e k t e r z i e I t wi r d.
Viele Geburt en , vi ele T od esfalle - d as ist noch ganz und gar
e x t e n s i v e M en s c h en 0 k 0 nom i e. Beginnt der B evelk erungsquell jedoch weniger iippig zu sprude ln , so ist man genotigt,
das quantitative Minus durch ein qualitatives Plus auszugleichen,
ist m an gezwungen , das Menschenmaterial b esser auszuniitzen,
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"
Rudolf Goldsc h eid : Frauenfrage und Me nsche no kon ornie
seine Produktivitatsperi od e nicht durch Raubbau zu verkiirzen , urn
so aus der gleichen Menge einen stets zunehmenden Ertrag zu erzielen . Riicksichtslose Ausbe ut ung und op timale Aus nutzung sind
iib er all di amentrale Gege nsatze, weil Ausbeutung au f g e w a It sa me r
Db er sp annung
d er
Produkt i v it at sg r e n z e beruht, eine Arbeitsm ethode, die wir be i der Boden bewirtsch aftung lan gst au fgegebe n hab en . Auch beim Mensche n
wird uns di e Ent wickelung zu a hnlichen Betriebs verbesserungen
fiihren , wenn wir erst gelernt hab en, V 0 I k s w i r t s c h a f t a 1 s
Wi r t s c h aft 1 i c h k e it a m Vol k zu begreifen , wenn wir
die T e c h n i k d e s 0 r g a n i s c h en auf di e H ohe der technischen Ausniitzung der Naturkrafte gehoben haben.
Wir haben bisher unseren Blick iib er all nur auf die geschaffen en
Werte gerichtet , aus der en Meng e und Qualitat allein un sere Kultur
bem essen , nun miissen wir auch den wertschaffenden Kraften seIber
grofiere Aufmerksamkeit zuw enden , solI neuerlich eine ungeheure
Ertragssteigerung un ser er Wirtsch aft zust ande ko mme n. Dieses
F aktum ist es nun, in dem die gewaltige Bedeutun g der Frauenfr age begriindet Iiegt. Die neuer e F orschung hat gezeigt, daJ3 es
di e Frau war , der wir die Anfa nge der Landwirtsch aft verdanke n .
Indem di e Frau sich vo m forzie rte n Ga ttungsdiens te zu emanzipieren
sucht, urn Kra fte frei zube ko mme n fiir die Kulturarbeit, und so
nicht meh r die gleichen Geburte nziffern aufb ringt wie vorher, wird
sie p r a k ti s c h z u r S c h ap f er i n d e r M en s c h en a k 0 n om i e. Werden weniger Menschen geb oren , so hart der
Mensch auf, ein im Uberfluf vorhande nes Gut zu sein. Sein oko nomisch er Wert ste igt und im selben MaJ3e, als dies geschi eht ,
muJ3 man mit diesem seltener werdenden Gut auch wir tschaft licher
umgehen, wodurch im Verlaufe selbst hohe Investitionen au f organische Zweck e sich rentab el zu gestalten beginnen. Frankreich,
d as di ese Forderung der Zeit nicht begriffen hat, kampft vergebens
mit ganz unzulanglichen Mitteln gegen den Bevolk erungsstillstand
sein er Nation, der immer mehr danach tendiert, in Bev olkerungsriickgang iib erzugehen.
Das ganze vorige J ahrhunde rt hindurch war es ublich , den
Menschen d as Gespenst der Ubervolk erung an ihre Scheuklappen
zu malen , und t atsachlich fiirchte te man sich auch v or nichts mehr
als v or di eser , es sei denn dav or , daJ3 die Mensch en sich die Warnunz 7.U Herz en nehmen und dadurch die Billigkeit der im DberII
Rudolf Goldscheid: Frau enfrage und Me nsche nok onomie
flusse vorhandenen Arbeitskrafte beeintrachtigen.
Gegen diesen
Ubervolkerungswahn kampfe ich seit mehr als zehn Jahren. *)
Wenn et was die Kulturgesellschaft bedroht, dann ist es zweifello s
in erste r Linie die G e fa h r d e rUn t e r v 6 Ik e run g . Der
F ortschritt in der Abnahme der Geburtenziffern in allen Kulturlandern beweist die Richtigkeit dieser Auffassung Tag fiir T ag
offensichtlicher. Auch vor der Unterv6lkerung brauchen wir uns
aber nicht zu fiirchten , wenn wir rechtzeitig die erforde rliche K onsequenz aus den v er anderten Tatsachen ziehen. Und di ese K onsequenz kann nicht anders lauten, als: Men s c h en 6 k 0 nom i e.
Wir miiss en die entspreche n de n Kompensationen ausb aue n , urn
der Umgestaltung des Gattungserneu erungsprozesses, di e sich in
der modernen Zeit v ollzieht, voll gerecht zu werden, wir mii ssen
erkennen, daf die Menschenokonomi e di e Grundlage der gesamten
Wirtschaft darstellt, und daf nur auf di eser sorgsam ausgebaute n
Gru ndlage sich ein festes Geb aude der nation alen Wirtsch aft erheben kann. Neben dem Bodenkapital, neben dem Industriek apital ,
neben dem Finanzkapital haben wir eb en bi sher das 0 r g ani s c h e
K a pit a I nicht geniigend beachtet, wir lebten von di esem selb er,
sta t t uns nur auf dessen natiirlichen Zinsertrag zu beschranken.
Ab er alle Erscheinungen der Gegenwart zeigen deutlich, daf
wir diesb eziiglich bereits mitten im Umlernen drin sind. Nur eine
ganz oberflachliche Auffassung k ann uns glauben machen, daf zum
Beispiel die veranderte Bewertung der Unehelichen et wa einzig
und allein aus humanitaren Gesichtspunkten resultiert.
Auch
hier ist es die Umgestaltung des Leb ensprozesses selbe r, welche
eine neue Ideologie in uns erweck t . E s ist mit dem eheliche n und
unehelichen N achwuchs ahnlich wie in einer Stadt, die iib er eine
Trinkwasser- und eine Nutzwasserleitung verfiigt. Sola nge di e
Trinkwasserleitung allein ausrei cht, das Bedii rfnis der Bev 6lk erung
zu stillen , k ann man mit der Nutzwasserleitung verschwenderisch
umgehen. Wachst abe r die Bev6lkerung und reicht das Trinkwasserreser voir allein nicht mehr aus, dann muB man auch mit
der Nutzwasserleitung anders verfahren wie bisher, muB sp arsamer
mit ihr umgehen und auch di ese Quelle zu Trinkwasser zu ver edeln
suchen .
*) Ve rg lei che R. Goldsche id "Zu r E t hi k des Gesarn t wi lfens' ". Leipzig 1 9 0 2
und "Hoheren twickelu ng und Mens chen okonornie. G run d legu ng der Sozialbiologi e. "
L eipzig 19 1 1.
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Rudolf Goldsch eid : F r a u enfra ge und Mensche no k on omie
Und steht es et wa mit dem e h e I i c h en u n dun e h e Ii c h en N a c h w u c h s anders ? EhemaIs, wo Nachwuchs im
Uber flu f vorhanden war, kam man mit dem eheliche n allein aus
und konn te die Verschleuderung des uneh eIich en ruhig ert rage n.
H eute ist d as ande rs geworden. Der Menschenzuflu/3 fangt an,
weniger reichIich zu werden , wodurch man gezwungen ist, nicht
nur den eheIiche n Geb urte n gr 6/3er e Aufmerksamkeit zuzuwenden,
sondern auch der uneheIich e N achwuchs mu/3 sorgsam gepflegt
werden , sollen wir in der Bevolkerungsokonomie nicht zu einer
passiven BiIanz gelange n . Der Garten der Ehe hort damit au f,
das alleinige Obj ekt unserer Wertschatzung zu sein, auch das so
verachtete "Mistbeet" der fr eien Liebe beginnt nun im Werte zu
steigen. Dah er aIle die Bestreburigen fiir Minderung der SauglingssterbIichkeit, fiir Jugendflirsorge, Mutterschutz, Mutterschaftsversiche rung, W6chnerinnenpflege und zahlreiches ande re, ebe nso
wie die Tendenz im Kinder- und Mutterschutz , kein en Un te rschied
zwischen ehelichen und uneheIichen Muttern und Kindern zu
machen.
Au ch die gesamte V e r s i c h er u n g s g e se t z g e bun g
wirkt auf Menschen ok on omie hin. Nur das Leben und Ste rbe n
der Unversicherten ist reine P rivatange legenheit der I ndividuen.
Der versiche rte Mensch hingegen zieht in seinem ind ividuellen
Schicksai die Gesellsch aft auch fin a n z i e II in Mitleidenschaft,
was dazu fiihren mu/3, immer deutlicher zu erken nen, da /3 Sozialpolitik und Sozialhygi ene direkt zu den Betriebsk osten der Wirtschaft geh 6ren und darum auch nicht aus dem Wohlf ahrtsfonds,
sonde rn aus dem Betriebs fonds zu bestreiten sind . Mach t m an
sich abe r ers t kl ar, von welch ungeheurer Bedeutung fiir die GeseIlschaft der Wirtsch aftszweig ist, der Men schenproduktion und
Menschenqualifikation hei/3t, tauscht man sich nicht mehr dariiber ,
da/3 dieser heute aIle Mangel aufweist, wie sie bei der nicht durch
Veterinargesetze geschutzten Viehzucht oder bei der st aat lich ungeschu t zte n H eimarbeit im Kl einbetrieb e zu b eob achten sind, dann
wird man die Frau als H auptbeschaftigte in diesem Wirtschaftszweige, als Menschen produzentin, mit ganz ande ren Augen zu betrach te n beginnen. Man wird einsehe n, da/3 aIle Rechte, die sie
fordert, ihr eingeraum t werde n miiss en, ger ad e im Interesse der
R ebung des Produktionszweiges, in welchen ihre N aturanlage sie
h ineinzwingt, da/3 die R assetiichtigkeit sich nur aufbaue n k ann
Rud olf Goldscheid: Frauenfrage und Menschenoko n omie
auf Grund ausreiche nden Rechtsschutzes der organische n und generativen Tiichtigkeit der Frau.
Un d da aIle Geschichte uns dariiber belehrt, daB jeglicher
Sch utz, der Menschen zugute kommen 5011, in ihnen selbst veranker t sein muB, daB nur starke Rechte Regulati on von innen her
garantieren , wie, daB Regulation von au Ben her stets relativ teuer
zu ste hen kommt und kein erlei Zu verlassigkeit gewah rt , so wird
man sich schlieBlich der Uberz eugung nicht erwehren konnen , daB
wir im Interesse des Gedeihens der Gesellsch aft auf Erweiterung
der Frauenrechte hinarbeiten miiflten, sogar wenn die Frauen alles
tun wiirden, urn das Bestehende, wie es ist, zu erhalten .
Letzteres ist freilich nicht zu befiirchten. Diejenigen, in denen
durch die veranderten Verhaltnisse neue Bediirfnisse geweckt
werden, miissen sich zuerst innerlich getrieben fiihl en, diese zu verfechten, sich mit dem groBten Nachdruck und dem hochsten MaBe
von Vor aussicht fiir sie einzusetzen, selbst wenn sie intellektuell
nicht auf der gleich en H ohe stehen, welche ihre Opponenten erreicht haben , die aber das Leben nicht mit der gleich en Wucht in
diese Richtung drangt. Ist die Frau erst zum BewuBtsein ihrer
Lage gelangt, ha t sie ihre ganze Bed eutung als Menschenproduzen tin erkann t, ist ihr ihre vera nder te Ste llung in der Gesellschaft
durch die vera nderte n Reproduktionsb edingungen vollig klar geword en , dann muB diese Einsicht fiir ihren Aufs tieg die gleiche
Rolle spi elen , wie es beim Proletari at iiberhaupt das BewuBtsein
seiner Lage war, d as es zu seiner ungeheuren Mach tste llung erhob.
R at M ar x in sein em " Kapit al" das oko nomisc he Bewegungsgesetz
der Gesellschaft aufzudecken versucht, so ist die M en 5 c h en o k 0 nom i e bemiiht. den Schleier von den 0 r g a n i 5 c h en
B e we gun g 5 g e 5 e t z en d e r K u I t u r g e 5 e I I 5 C h a f t zu
liiften, tib er die W ee h 5 e I b e z i e hun g e n z w i 5 C h en t ee hni sch er Pr odukti on und o rga n is c he r R eprod u k t ion Licht zu verbreiten.
Wie das 19. J ahrhunde rt d as J ah rh undert der T echnik war,
so wird das 2 0. Jahrh under t das J a h r hun d e r t d e r v e r inn erlicht en T e chnik , und d amit d er Organik
und d er Ps ych ot e chnik sein, war fur jenes die Natur, so
wird fur dieses das Leben der Ausgangs p unk t sein. Auf die Naturbeherrschung wird so die L e b en 5 b e h e r r 5 c hun g Iolgen .
Wie der Triumph der organischen Naturwissenschaften die Wissen-
14
Rud olf Go ldscheid: F rauen frage und Men sch en 6konomie
schaft sowohl in der Praxis wie in der Theorie vo n Grund auf umgestaltet hat, so werden auch die ungeheuren F ortschritte der Biologie, die unseren Tagen das Ceprage geben , eine ga nz neue Wirtschafts t heorie und Wirtsch aft spraxis her aufbringen , eine solche, in
der der Mens ch in den Mittelpunkt des Interesses riickt, in der der
M en s c h a I s W e r t qu e II e zum Angelpunkte der wirtschaftlich en Bet atigung wird.
Die vertiefte Erforschung des okonomischen und n am entIich des e n t w i c k I u n g s 0 k 0 n om i s c h en Wertes des
Menschenleb ens, das Bestreben, die ihm innewohnend en K rafte so
auszuniitzen, daJ3 die Arbeit neben dem reichsten au flere n Mehrwert auch mit dem groJ3te n 0 r g ani s c h en un d see lis c h en
M e h r w e r t abschlieJ3 t, muJ3 ab er auch zu einer weitau s griindlicheren Untersuchung des Entwicklungswertes des Weib es fiihren,
di e uns hoch iiber die oberflachliche Auffassung der F raue nfrage,
wie sie bisher iiblich war, hin au sh ebt. Wir werd en trachten , auch
ihren LebensprozeJ3, besond ers ihren Gattungsdi enst, moglichst
oko nomisch zu gestalten , und d ab ei erkennen, daJ3 alle ihre F orderungen , die wir bish er nur als Appell an un sere Gerech t igke it
ansahen , zugleich un abweisb are Voraussetzungen der Ver besserung
der sozialen Entwicklungst echnik sind.
Durch wander t man ein technisches Muse um und ve rfolgt
z. B. die Entwicklung der Beleuch tungste chn ik, so sieht man mit
Staunen und Bewunderung, wie mit im mer gerin gerem Energieverbrauch ein ste ts besserer Lich teffekt erzielt wir d, ein Lichteffekt,
der zug leich wesentlich starker und wesentl ich ste tige r ist. Ga nz
Ahnliches laJ3t sich auch in der Entwicklung der menschli chen Arbe it
beobachten . Aber hier h ab en wir das GroJ3te noch lange nicht geleistet. Nur durch den Ausb au au llere r Mech ani smen suchten wir
bish er dem Menschen Arbeit ab zunehmen und den Ertrag sein er
Arbeit zu vervielfaltigen. Die org an ische Technik der Zukunft
wird v on inn e n h er die Krafteverluste bei der Arbeit zu verrin gern suchen, wird zu verhinde rn wissen , daJ3 der Mensch sich
in der Arb eit vor der Zeit aufb rauch t. Di e s e ve r inn e r li cht e , a us d er Ein sicht in di e F u n k tio ns be dingung en d e s Or g ani s ch en h e r au sg eb or en e
T e chnik , di e di e vo r ze i t i ge Abnutzun g d er o r ga n ische n T eil e d e r Pr odukt i on sm a s c hin eri e
zu v e r h ii t en s u c h t , w i r d ab e r n i c h t b e i de r R e -
15
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Men sch en okonomie
produktion d o r Giit er stehen bl eiben , sond ern
sich a u c h a u f di e R estituti on d er Individu en
und di e R epr odukti on d er G attung e r s t re c ke n
und d ab ei ga n z b e sond ers d e m W eib e zu Hilf e
zu komm en trachten, ind em si e a l l e j en e In stituti on en zum Ausbau zu bring en sucht, w elch e
un entb ehrlich sind, damit d as W eib sein en g en er ativ en Aufgab en mit g eringst em Kraftaufwand und h o c h s t e m Nutzeff ekt nachzukomm en
v e r mag. J e mehr das Weib in seinem Gattungsdienste entlaste t
wird, ohne daB der jeweils erwiinschte Bev olk erungszuwachs ausbleibt, desto leichter wird di e Vereinigung von Mutterschaft und
Beruf, desto mehr Krafte werden im Weib e freigesetzt, die es der
Mitarbeit an der Kultur widmen kann.
AHe Gesetze, di e noch in der Gegenwart Lehrerinnen und
Beamtinnen zum Zolibat verurteilen, werden dann nur als Dokumente von der Zeiten Schande erschei nen. Mit vielem ande re n,
was heute n och ernst genommen wird, werden sie sich als viel belachelte Obj ekte bl oB in jen em F r a u e n m u s e urn erhalten,
dessen Errichtung gewiB nicht mehr lange auf sich warten lassen
wird. E s w i r d e i n ed e r r e i c h s t en S t ii t t en m en s c h lic h er S elbst erk enntnis s e i n !
Ab er neb en historischer Selbsterkenntnis ko m m t es auf so z i 0 log i s c h e S e I b s t b e sin nun g an. Sov iel man auch
aus der Vergangenhe it fiir di e Zukunft erschlieBen k ann, Verse nkung
in die leb endigen Triebkraft e der Gegenw art versc hafft noch weit
Die vergleichende S 0 z i 0 l o g i e
zuverlassigere P erspektiven.
ist ebe n eine n och weit eindringliche re Lehrmeisterin als die Geschich te . Vergleichen wir et wa die SteHung, die die Frau in Ch ina
und J apan, j a selbst in der europaischen Tiirkei einnimm t, mit
ihrer SteHung in Deutschland und England, konfrontier en wir,
mit welchen Argumenten in den ers te ren Landern noch di e prim itivsten Selbstverstandlichkeiten in Bezu g au f sie bek ampft werden ,
mit dem Niveau , auf dem in Kulturstaa ten der K ampf urn die Erweiterung der F ra uenrech te ausgefochte n wird, so brau chen wir
uns sic herlich nich t in pessim istische Befurchtungen zu verlier en.
Und wie weit ist wieder Aus t ralien selbs t Deutschland und England hinsichtlich der Frau voran. Welche Schreckens bilde r werde n
bei un s noch heraufbeschworen, als ange blich notwendige F olgen
16
Ru dolf Goldsch eid : Frauenfra ge und Men schenok on ornie
der politischen Gleichberechtigung der Frau und der Erteilung
des aktiven und des passiven allgemeinen Wahlrechtes an sie, und
mit wie groBem Erfolge sind all di ese Forderungen in Australi en
langs t realisiert! Man k ann au f Grund alles dess en, wie ich dies
sch on in m ein em Buche " Hohere n t wicklung und Men schen okon ornie "
en t wickelte, auch m it Sicherheit v oraussag en: " W lirden di e Frau en
bei uns das aktive und passive Wahlrecht erhalten, d ann wiirde
k eineswegs, wie immer wieder b eh auptet wird , der politische Kampf,
der P arteihader auch in di e F amilie hineingetrag en, und d iese d adurch in ihrem Bestande gefa hrdet, sondern dad u r c h k a m e
g anz im G eg ent eil di e F amili e parlam ent arisch
und d am it s 0 z i a I u n d 0 r g ani s c h u b e r h a u pt e r s t
z u W 0 r t. W er in unserer gegenwartigen Gesellschaft k eine p olitische Sti mme zu vergeben h at, dess en Bediirfnisse, F orderungen
und Wiinsche konnen sich nicht ernstlich geltend m achen. Di e
Bediirfn isse, F orderungen und Wiinsche derer, di e nicht tiber d as
W ahlrecht verfii gen, bleiben genau so ohne jeglichen EinfluB au f
di e sozial e Entwicklung, wie di e Bediirfnisse Jene r di e Marktpreise
nicht im geringsten t angieren, di e der Kaufkraft en t beh ren . D as
W ah Ir e c h t i s t pol i tis c h e K auf k r aft. H a tten die
F rauen erst d as ak t ive u nd p assive allgemeine, gleiche und geheime W ahlrecht, wie wiirde sich d a d ie Agitation der F amilie anzunehm en begin nen l Alle Rich t ungen wiirden wetteifern in Versprech u ngen fiir F am iliensch u t z. Die Frauenfrag e ware d ann mit
eine m Mal e als der w i c h t i g s t e T eil des Bevolkerungsproblems
anerkan n t und di e Entlastung der Frau in ihren gen erativen Funkti on en d ie T ag esfrag e. Ab er d a di e Frau heute polit isch n och ni cht
ex is t ier t , bescha ftigt auc h ihre so zia levolut ionist ische Bedeutung
di e Allg em ein heit n och nicht un d kein Mensch denk t d aran, d a B d ie
Fra uenfrage d as b rennen dste soziale Ent wicklungsproblem in sich
sc h lieBt.
Nirgends offenbaren sich die innigen Beziehungen zwi schen
t e c h n i s c h em P r o d u k t i on s pr o z e B und 0 r g a n i s c h em R ep r od u k t i on s p ro z e B der Gesellschaft deutlicher als an der F rau. Die Frau h a ng t naturgem af mit den generativen Leistungen vi el inniger zusammen als der Mann. Treiben
wir deshalb an der Frau im selben MaBe R aubbau, wie am Mann,
d ann racht sich di es n aturnotwendig vi el rascher an der Gesellsc haft, dann greifen wir an das Mark unseres 0 r g a n i s c h en
I7
Ru dolf Go ldsche id: Frauenfrage und Me nscheno k o n ornie
K a pit a 1 s. E s ist freilich ungemein bequem, d as weibliche Geschlecht se1bst dafiir verantwort1ich zu mach en , wenn die Frau
immer ti efer in den ProduktionsprozeB hineingezerrt und d adurch
dem ReproduktionsprozeB en tzogen wird, und a nkniipfend daran
zu erklare n, an allen Degenerationsgefahren seien in erste r Linie
die to richte n Emanzipationsb estrebungen der Frauen schuld. Wer
derartige Anschauungen vertritt, beweist abe r nur, daB er jeder
tieferen soziologischen E insicht bar ist. Unsere Kulturbedingungen
sind heute so beschaffen , d aB wir die Mit arbeit der Frau nicht en tbehren konnen, und obe ndrein ist di e B e f r ei u n g d e r F r a u
aus d em Ge s ch1 echtsjoch e i n H oh er entwick 1 u n g s f a k tor a 11 e re r s t en Ran g e s, ein HoherentwickIungsfaktor, der fiir die Vervollkommnung der Art unserer Erhaltung
sch1echterdings unentbehrlich ist. K ann es uns doch unmoglich
gIeichgiiltig sein, a uf welch er Kulturstufe die Hal f t ed e s M ens c h en g es c h l e c h t e s sich b efindet!
E s ist gar nicht zu sagen, welche Verbrech en an der VoIksgesundheit , an der R assetiichtigkeit, an der G e s c hie h t ed e r
Z u k un f t auch die heutige Zeit noch begeht, in wie unerhorter
Weise sie sich an den Entwicklungsmoglichkeiten versiin digt, indem
sie , statt in jed er Bezieh un g in energ ische r Weise auf e r b li e h e
En t 1 a s tun g hinzu arb eiten , gleichgiil tig a n den tausendfaltige n
Schade n voriibergeht , den en besonders d ie Frau innerhalb des
Bestehenden mehr ode r weniger weh rlos ausgese tzt ist. W o kiimmert sich heute irgend ein Gesundhe itsam t urn d as ras che Altern
der Proletarierinnen , urn die raubbau artige Amortisatio n u nd die
gewiss enlose Vergiftung dieser Quellen der Volkserneu erung. Enthiillt die sorgsame Lektiire der Statistik der Gewerbe k rankhe ite n
nicht ein ganzes Heer von Degen erationsfaktoren , gegen das heute
bei weitem noch nicht genug getan wird ? Ube ra rbe it, Unterernahrung, Schlafmangel, iib erstiirzte W ochenbetten, verbunden mit
zah1reichen F ehl- und MiBgeburten , mit hoher Sauglingssterblichkeit, die mit verursacht ist durch den Zwan g zu mangelhafter Brutpfl ege, Schwangersch aft und Nied erkunft unter un giinstigsten Umstanden , elende Wohnungsverhaltnisse mit Uberenge des R aums,
schlechter. Luft, unzure iche ndem Licht, Leb en sb edingungen , die
Iiir aIle T oxikationen und Infektionen den fruch tb arste n Nahrboden schaffen, ungenii gende Vorsorge gege n die Verbreitung der
AIkoholpest und die Ubertragung der groBen Volkskrankheiten
18
Rudolf Gol dsch eid: Frauenfrage und Men sch en okonomie
- hi erin liegen di e ti efsten Wurzeln aller Degeneration, di e umso
starker und gefahrlicher sind, je weiter sie sich auch in di e Frauen
hinein verzweigen , je gewissenloser wir Frauenkraft m assenhaft
vergeuden, wofiir namentlich di e Prostitution als notwendiges
Produkt unserer Gese llscha ftsverhalt nisse ein Ziffernmaterial liefert,
das a n e rsch re cke n de r Deutlichkeit nichts zu wiinschen iib rig laBt.
W enn durch eine s unsere Zeit als di e heuchlerischste charak terisiert wird , di e je di e Geschichte erle b t hat, so durch d as nicht
genug zu brandmarkende Verhalten, das sie der Frauenfrage gegentib er a n d en Tag legt. Sie sieh t nicht, richtiger, will nicht se he n,
daB di e Frauenfrage eine s der Zentralprobleme unserer ganzen
H oherentwicklungsarbeit einschlieBt . Ab er noch schlimmer ist es
urn di e Gegenwart bestellt, wo m an die Frauenfrage angeblich bereits
unter di esem oder eine m a h nliche n Gesichtspunkt a nsieht. D a
geht m an erst recht heuchlerisch VOL Man sucht der F r au d as Eindringen in d as Berufsleben zu ers chwe re n, ohne di e Ursache n zu
beseitigen, di e ihr di eses zu eine r Notwendigkeit m achen, ja , in
volle m BewuBtsein, d aB di ese Ursachen nicht besei t igt werden
k 0 nn e n . Man weiB se h r wahl, d aB wir bei ab ne hmen de r Mort alitat und namentlich b ei energische r Hinarbeit auf langsamere
Abniitzung d er Arbeitskrafte mit wesentlich geringeren Geburtenziffern a usko m me n konnten, und daB d eshalb trotz Berufsarbeit,
di e F rau ihren F amilienpflichten vollkommen nachzukommen imst a n de ware , wenn nur di e en t sp re che nde n kompensatorischen
K on sequenzen a us den Verschiebungen im sozialen Anpassungsp ro zeB ge zogen wiirde n. Aber nichts derartiges geschieht. Ganz
im Geg enteil tut man alles, urn der Frau jene Vereinigung von
Mutterschaft und Be ruf zu ers chwere n, oh ne deren Zustandekommen
u nse r Kultursystem eins t we ile n noch nicht erhaltu ngs fa hig ist und
n och wen ige r zum Maximum der Leistungsfahigkeit em po rs te ige n
kann. Mit d en diimmsten rationalistischen Argumenten b egriindet
man alle jene MaBn ahmen, di e di e Frauen d aran hindern, di e zahlr eichen unendlich schwierigen N eu anpassungen an di e v ollends
ve ran derte n sozia len Verhaltnisse zu vollziehen, zu der en Durchfiihrung sie heute unter d en gro Bte n see lische n und physischen
Qualen ge no tig t sind.
Aber wir werden auf neue Ver halt nisse gliic k liche rwe ise nicht
allzulange zu war te n h aben. Ihre Verwirklichung h angt nicht d avon ab , d aB die Frauen, wie ve rblen de te R ationalisten wahnen ,
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Menschenokonomie
den Nachweis liefern, daB sie dem Manne ebenbiirtige geistige Hochstleistungen an den Tag legen konnen, sondern vor allem davon, daB
sich crstens mit Evidenz ergib t , daB sic ausreich end befahigt sind,
tiichtige Kultnrmitarbeiter zu sein, und zweitens durch das kontinuierliche Sinken der Geburtenziffern, das di e Frauen sowohl ill
ihrem Gattungsdienste erheblich en tl a ste t , wie es di e Gesellschaft
zwingt, aIle J ene ausreichend zu unterstutzen, di e ihr das wertvollste
Geschenk machen, das es gibt, namlich neue Burger. Dieses Geschenk wird nur solange miBachtet, als der Mensch ein im Uberfluf
vorhandenes Gut ist. Verringert sich der Bevolkerungszuwachs,
dann hort mit einem Male das alberne Geschwatz von den Vie1zuvielen auf, dann ist di e Masse nicht mehr Mass e, quantite negligeable - dan n i s t P I 6 t z I i c h d a s 0 r g ani s c h e K a pital entdeckt, und das Studium s einer Zusamm ens etzung und der giinstigst en Voraussetzungen s ein er Ern eu erung , Erh6hung und
Verzinsung wird zur wichtigst en sozialen Angel e g e n h e i t." *)
Es kann oh ne weiteres zugegeben werden, d aB mit der Berufsarbeit der Frauen, n amentlich mit der d er verheirateten innerhalb des Besteh enden allerle i Gefahren sowohl fur deren Organismus, wie fiir den Gattungsdienst und di e Entwicklung der F amilie
verbunden sind. Ab er ohne di e M6glichkeit der wirtschaftlichen
Selbstandigkeit durch Berufsarbeit bleibt di e Frau allezeit d azu
verurteilt, Par a sit a m Man n e zu sein . Di e ent faltende Wirkung der freien Arbeit hat das Menschengeschlecht zu dem gemacht,
was es ist. An di esem Aufstieg hat di e Frau bisher nicht im gleichen
MaBc teilgenommen . Sie litt unter potenzierter Unselbstandigkeit,
denn sie war sog ar noch abhangig von den wirtschaftlich Tiefststehend en. Besonders in den letzten J ahrzehnten waren fiir ihre
Entwicklung die denkbar ungiinstigsten Bedingungen gegeben.
In den obersten Schichten fehlten der Frau die en ts preche n de n Entwicklungsreize durch zu wenig Pflichten, in den niedersten Schichten
brach sie zusammen unter eine m Ubermaf an Pflichten. Sie muBte
da volle Hausarbeit und schwerste Berufsarbeit zugleich leisten.
*) Si ehe R. G oldsch eid, H oherentwicklung un d Men schenokonomie. Gru nd legung der Sozialbiologi e : K ap, IX. D as R eproduktionsproblem. L eipzig 19 I I .
20
Rudolf Goldsch eid : Frauenfra ge und Men sch en okonornic
Unsere Zeit ist nun einmal so b eschaffen, daB , soweit die Massen
in Betracht kommen , ni emand an der Kultur teilnehmen kann, der
nicht auch en tsp reche nd an der Produktion t eilnimmt. Es ist d arum
innerhalb unserer gegenwartigen W irtschafts- und Gesellschaftsordnung ein Ding der Unmoglichkeit, daB di e Frau dasselbe MaB
an Freiheit der P ersonlichkeit erlangt, wie der Mann, wenn ihr der
Zugang zu allen Berufen nicht in gleicher Weise, resp. in ihrer Eigenar t entspreche nde r Weise offe n steht, wie ihm. Di e F r ei h e i t
d er P ers onlichk eit i st a be r d as h o c h s t e G u t
d es M en s c h en , ihr muB d arum auch die Frau zustreb en. Trotz
aller Gefahren, die mit der weiblichen Berufsarbeit verbunden
sind, ist diese deshalb ein not w en dig e s D u r c h g a n g s s tad i u m, das aber keinesw egs mit allen jen en Dbeln b ehaftet
zu sein brauchte, die es heute zu eine r so schweren Gefahr Iiir di e
K ulturvolker machen .
Immer wieder wird gesagt, di e Frauen seien noch ni cht reif
fiir v olle burgerlich e Gleich berecht igung. D as ist abe r eine ganz
in haltsleere Phrase. Einzig richtig ware es nur, hervorzuheben :
unsere Zeit ist noch nicht reif fiir das Verbot der Berufsarbeit der
Frauen, und zwar fiir das der Verheirateten ebensowe nig, wie fur
das der Ledigen, Angesich ts der internation alen wirtsch aftlichen
Konkurrenz auf dem Untergrunde des kriegerischen W ettbewerbs,
konnen wii uns den Luxus eine r nur der Familie leb enden Frau
n och nicht leisten. Auch di e seelische K onstitution des Mannes,
wie die St ru k t ur unserer Gesellschaftsverhaltnisse ist noch nicht
so weit verfeiner t , daB er gen eigt ware , der Frau aus eige ne m Entsch lu f eine wahrhaft freie Ste llung zu gewahren, die sie sich nicht
selbst erarbeite t hat. E s wi r d g e wi B e i n eg r o B e L eis t u ng se i n, w enn di e Fr au d em H aus e wi ed er
z u r i.i c k g eg e b en s e i n w i r d - a be r d e r W e g d a h in
f ii h r t tib er ihr e politi sch e und bi.irg erliche
G l ei c h b e re c h t i g 11 n g.
Wie di e Geschichte den en recht
gegeb en hat, die beh aupteten , di e Befreiung der Arbeiterklasse
k ann nur ihr eige nes W erk sein, so wird sich zeigen , auch die Befreiung der Frau k ann nur ihr eige ne s Werk sein. Die U m g e st altung d er Wirtsch aft durch d en maschinell en Gr oBb etri eb h at di e Fr au a u s d em H aus e
hin ausg etri eb en; nur di e mit a u s re i c he n de n
R echt en ausg estatt et e Frau wird sich das Haus
2I
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Mensch en i:ikonomie
auf h o h e r e m Niv eau wi ed er z u r Ii c k e r o b e r n
k 6 nn e n.
Es gibt nun schon viele, di e d as einse he n , und darum zugeben,
d af in den breiten Massen di e Berufstatigkeit del' Frau eine N otwendigkeit del' Zeit ist. Abel' auc h sie wehren sich no ch dageg en ,
d ali ebenso in d en b esitzenden K las sen di e Frauen n ach Berufsa rbeit st re be n , statt sich aussch liefllich a uf di e Versorgung in del'
Ehe verlassen zu wollen. U n d sie ere ifern sic h ganz bes onders
gegen das Frauen stu diu m . Nun mag es j a vi ell eicht richtig
se in, daf d as Gymnasial- und H ochschulstudium, w i e e sh e u t e
b et I' i e b en wi r d, d em weib liche n Organismus, namentlich
in den E n t wick lu ngsjah re n , ni cht zutraglich ist. So sehr abel' in
di esel' Hinsicht iibertrieb en wir d , so wa re do ch , se lbst wenn alle
di ese U ber t re ib u ngen zu R echt b estiinden , d as Frauen studium v on
d el' gro fs te n so z i a l en Wichtigkeit.
In dem gewaltigen Befr eiungsringen des weiblichen Ges chlec h t s stehen di e akademisch
gebildeten F ra ue n in del' vordersten Linie. Zusammen mit d en a us
eige ne r Kraft em porstrebe n de n , rastlos urn di e Erweiterung und
Vertiefung ihrer K enntnisse Bemuhten, ste lle n sie di e geistige
Avantgarde. W enn d a r u m a u c h w i r k l i c h e i n i g e n
t au s end Fr au en a u s i h r e r Ant eiln ahm e a m Em anzip ati on skampf S c ha de n fur i h r e Ges u n d he it
e r w ii c h s e , was k o n n t e di e s fur e i n e R oll e s p ie l en , g eg enub er d el' B ew ahrun g V Ol' ges u n dl i c h e r Schadigung , di e si e fur Milli on en Fra ue n
s c h a f f e n.
Selbst wenn di ese Vorkampferinnen ihre Gesu n dheit v611ig au fs Sp iel se tzten, ja soga r wenn sie ihr L eb en preisgaben , wa re d as Opfer nicht zu ho ch fiir d as , was d amit erre ich t
wird . Und gan z d as gleiche galte fii r den F all, daf die Vorkampfer innen del' Frauenbew egung durch ihre Betatigung vollig a us
d em Gat t u ngs d iens te a usgeschalte t wiir d en ; es k ame ni cht in B etracht gegeniiber dem, was sie d amit indirekt fiir d en Gattu ngsdi enst leisten , gegenuber del' E I' h 6 hun g d el' s 0 z i a l en
F I' U c h t b a I' k e it, di e durch sie b ew erkstelligt wird. 1st es
d och ihre Arbeit zuvo r de rs t, di e L eb en und Ges un d he it del' Menschenp roduzentinnen selber schu t zt , sind sie doch eine Art f I' e i w i I I i g el' g e n e I' a t i v el' P ol i z e i , d ie gleichsam fiir Asepsis
im GattungserneuerungsprozeB sorg t.
Sie sind di e e i g e n t lich en Sch6pf erinn en v on g en er ati v em M ehrw ert.
22
Rudolf G oldscheid : Frauenfrage und Men schen ok onomie
Nun muB ab er besonders hervorgehoben werden, daB die
organischen Gefahren fur die Fiihrerinnen im weiblichen Befreiungskampf keineswegs so groBe sind, wie immer wieder behauptet wird
und auch ihre direkten Leistungen im Gattungsdienste stehen
zweifellos nicht wesentlich hinter denen von Frauen aus ahnlichen
Klassenschichten zuriick. Neb en allem anderen, was sie zuwege
bringen , er fiillen mithin di e so ver achteten "Frauenrechtlerinnen"
vielfach auch ihre Pflichten bei der Gattungserneuerung in vollem
MaBe und wiss en sich in der Mehrheit der Falle, trotz intensiver
geistiger Arbeit, ihre Gesundheit sogar bis ins spateste Alter zu bewahren, wahrend ger ade di e ausschlieBlich korperlich schwer arbeitenden Frauen innerhalb des Besteh enden nur allzuhau fig ihre
J ugendkraft weit vor d er Zeit einbiiBen . Es ist darum nur H euchelei, wenn man urn den Organismus der Kopfarbeiterinnen so
viel angst licher besorgt ist, als urn den der Handarbeiterinnen.
M an will d amit nichts a n de re s, a l s di e F r au enb e we gun g d e k a pit i e re n.
J edenfalls ist fiir di e Entwicklung der Volkskraft und Volkstiichtigkeit nicht der organische Zustand, in dem sich d as klein e
Hauflein der geistig arbei te nde n Frauen befindet, en ts cheide nd ,
sondern das Schicksal, das unser e Gesellschaft den breiten Massen
der korperlich arbe iten den Frau en zuteil werden liiBt. Ereifert
man sich iibrigens gar so sehr dagegen, daB die weiblichen Intellektuellen geringere Geburtenziffern aufbringen - eine Erscheinung,
di e nebenbei bemerkt bei allen in ahnlichen Klassenlagen Befindlichen zu beobachten ist - warum nimmt m an es dann so gelassen
hin, daB zahllose Frauen durch den Eintritt ins Kloster dem Gattungsdienste en t zogen werden ? Und bleiben nicht auch viel e
Frau en durch die Besonderheit unser er Wirtschaftsverhaltnisse
zur Ehelosigkeit verurteilt, ohne daB ihre Ehelosigkeit, wenn sie sich
nicht in .den Dienst des weiblichen Befreiungskampfes stellen, der der
g esellschaftlichen Fruchtbarkeit auch nur indirekt zugute kommt?
Nun wird man freilich darauf er wide rn : gerade durch den
weiblichen Emanzipationskampf, gerade dadurch, daB die Frau
mit dem Mann in K onkurrenz urn die freien Arbeitsstellen trete,
werde die Ehe erschwer t. Das ist abe r k eineswegs unbedingt
richtig. Innerhalb des Besteh enden werden vielfach Ehen gerade
dadurch errnoglich t , d aB die Frau auch mit zu verdien en imstande
ist und so eine geringere Last fiir den Mann darstellt. W i e di e
23
Rud olf Go ldscheid: Frauenfrage und Me nschenokonomie
Ding e he ute lieg en, hab en wir auch garnicht
die Wahl, ob wir di e Erw erbsarbeit der Frau
v e r b i e t en w 0 11 e nod e r n i c h 1. Wiirden wir nur di e
Erwerbsarbeit der verheirateten Frau verbieten, dann wiirden wir
damit die uneh eliche Mutter vor der ehe liche n begiinstigen . Wiirden
wir jeder Mutter, der uneh elichen ebe nso wie der ehe liche n, die
Erwerbsarbeit untersagen, dann wiirden K onzeptionsverhiitung
und Fruchtabtreibung ins Ungemessen e wach sen . Uberdies ist
es ja auch ganz ausgeschlossen , der Frau jegliche Erwerbsarbeit
v ersperren zu wollen . D as Erwerbsarbeitsverbot fiir Frau en konnte
sich also nur auf das Verbot der F abrikarbeit beschranken . D a mit wiird e a b e r g erad e j en e Art d er Frau enarb eit g etroff en w erd en, die d e r staat lich en
Db erwachung noch a m l eicht est en z u g a n g l i c h
is t , bei der es darum n och am ehes te n moglich ist, di e F r a u
v 0 r M i B bra u chi h r e r A r b e it s k r a ft z u b e w ah r e n.
Sch on aus diesen kurzen Andeutungen ergib t sich mit v oller Deu t lichkeit, daB das Verbot der Frauen erwerbsarbeit cine ganz un sin nige F orderung d arstellt, d aB es sich vielmehr einzig und allein
. urn R eg e 1un g der Frauen erwerbsarbeit handeln k ann, und zw ar
vor all em urn so beschaffen e, daB der Frau eine genii gend gro Be
Anzahl von Berufen offen steht, damit sie nicht ledi glich au f Versorgung in der Ehe angewi esen ist, dam i t n i c h t i h r e S e x u a l i t a t f ii r s ie zur a u s s c h l a g ge be n de n W aff e im
K a m p f eu m s D a s e i n wi r d, und ebe nso muB d afiir geso rg t
sein, d aB die Frau durch ihre notwendige Berufsarbeit nicht in
ihren gen er ativen Aufgaben geh emmt und geschadi g t wir d. Derar t ige R egelung der Frauen erwerbsarbeit ist abe r nur mit eine m
Maximum v on Erfolg durchfiihrb ar, wenn die Frauen mit aus reichenden R echten ausgestattet sind, urn s e 1b s t mit v oller K raft
fiir die Durchsetzung dieser R egelung eint re te n zu konnen ,
Nichts tragt offensichtlich er den Stempel b ewuBter Entstellung des t atsachlich Gegeb en en, als wenn m an den Glauben
vorzutauschen sucht, es sei et wa eine " mo ralische Entartung" der
modernen Frauen di e Ursache, d aB sie in so groBen Scharen der
Berufsarbeit zustreb en. Sovi el Klarheit h aben wir heute schon
iiber den menschlichen Charakter, d aB wir wissen , niemand nimmt
aus bloBer Neigung das Opfer vielstiindiger, eintonige r Arbeit au f
sich. Wenn darum die Frauen den Fabriken und sonstiger Er-
24
Rudolf Goldsch eid : Frauenfrage und Men sch enokonomie
werbsarbe it zustromen, so tun sie es, weil sie m ti ss e n. Und wenn
di e Gesellschaft wirklich Mittel und Wege gefunden hab en wird,
urn den Frauen die E rwerbsarbeit nicht mehr zur un ab weisb aren
Notwendigkeit zu m achen , wenn sie Mittel und Wege gefunden
haben wird, urn der Frau in der Familie einen geniigend produktiven und geniigend freien Wirkungskreis zu verschaffen , so wird
die Frau, wenigstens sow eit die groBen Massen in Betracht kommen,
d as V erbl eib en in d er Familie g e w i B a lle m
a n d e r n v 0 r z i e h en.
Verbot der Frau en erwerbsarbeit ware darum nur in einem
sozialistischen Zukunftsstaat moglich, wo jedem Gesellschaftsmitglied das Lebensnotwendige vom Staat frei zur Verfiigung gestellt
wird, 0 h n ed a B d es w e g e n V e r k ii r z u n g d e r pol i tisch en R echt e od er Einschrankung d er Fr eih e i t d e r P er so n I i c h k e i t e i n t r itt , und wo von der
F rau als Gegenleist ung hierfiir nichts ve rlangt wiirde, als okono mischst geregelter Gattungsdienst in den er forderlichen Grenzen
und Betatigung in der Familie. Von einem derartigen Zustand
sind wir jedoch noch zu weit entfernt, als daf solche Eventualitaten
ernstli ch in Diskussion gezogen werden konnten . Was aber et wa
Schutz der Frau und Begiin stigu ng der E heschlieBung durch wirtschaftliche Besserstellung des Mannes anla ngt, so ist das e h rl i c h e Hinwirken dar auf gewiB von hochstern Wert und groJ3ter
Wichtigkeit. Ab er damit allein darf es nicht sein Bewenden haben .
Wird d adurch doch wi ed er di e Abhangigk eit
d e s W eib e s v o m Manne a u f s Int ensivst e g esteige r t, di e Fr eih eit ihr er P ersonli chk eit unt er
d a 5 G esc hi e c h t 5 j 0 c h g e z w u n g en. Innerhalb des Bestehenden ist darum das soziale Problem , das die Frau uns aufgibt,
nu r so richtig geste llt : W i e k ann di e F r a u e n e r w e r b s a r be i t s olch erg e stalt g er eg elt w erden, da B di e
Fr au durch di es e so w eni g al s m o g l i c h Schad en
a n ihr er Ges un d he it u n d ih r em L eb en , wi e a n
i hre r Fr e ih eit nimmt , d a B s ie dadu rch so w enig
a ls m o g l i c h in ih r en g en erativ en Auf g ab en
b eh ind ert w i r d, d a B si e si ch tr o tzd em s o v ie l
a ls m o g l i c h d em H au s e und d er F amili e widill e n k a n n, und daf sie nicht zur Ehe gezwungen ist, einfach
scho n urn sich erhalten zu konnen . Di e 5 e s Pr o b I e m v 0 r
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Rudolf Goldsch eid: Frauenfra ge und Mensch en okon om ie
a l l e m ist e s, d as di e g eg enw arti g e G es ellsch aft
z u I 6 s en h at.
Nun ist unser e ganze biirgerliche Gesellschaft zu dern geworden, was sie ist, durch Appell an die S e I b s t h i I f e der I ndividuen. Der Individuali smus, den man irnrner wied er gegen den
Sozialism us auszuspielen strebt, weist au f Selb sthilfe an Stelle von
S t a a t s h i I f e hin. Auch der rnoderne Kl assenkampf ist in
ers te rLinie d as ganz na tiirliche Produkt der Erziehung zur Selbsthilfe. Er ist irn Gegensatz zu planloser Selb sthilfe allerdings 0 r g a n i s i e r t e S e I b s t h i I f e. Selbsthilfe und Staa tshilfe stehen
jedoch in Wechselb eziehung. Was an Staatshilfe versaumt wird,
rnuB durch Selbsthilfe geleistet werden. Setzte sich darum der alter e
Liberalismus fiir Einschrankung der Staatshilfe ein und erhob zugleich Protest gegen die organisierte Selbsthilfe, so beging er damit eine n flagranten Widerspruch. Wie der rnod erne Kl assenkampf, so ist auch der Kampf urn Erweiterung der Frauenrechte
nichts ande res, als org anisierte Selbst hilfe. D as Zugestandnis erweiterter F rauenrechte hingegen ware organisierte Staatshilfe.
Stets hat sich nun gezeigt, d aB wenn die organ isierte Selbsthilfe
irgend einer Individuengruppe einen bestirnrnten Reifegrad erreichte, sie durch organisierte Staatshilfe abge l6st werde n rnuBte,
sollte die Gesellschaft als Ganzes nicht unau fhorl ich durch zahll ose
Opfer erforde rnde K ampfe ersc hiit tert werd en . A I s G run d v or auss etzung z u v e r l a s s i g o r g a n i s i e r t e r Staats hilf e hat sich a be r ii b e r a l I di e Zu er k ennun g
voll er p o l i t i s c h e r und biir g erlich er G le i c h b er echtigung a n di ej eni g en Indi vidu en e r wi es en, urn di e e s sich b ei d er o r ga n i s ie r te n
S e I b s t h i I f e h an d el t e. E in a n d e re r W e g . w i r d
a u c h in d er Frau enfr ag e nicht b es chritt en w erd en k 6 nn e n . Urnso weniger, als die Erscheinung des Geburtenruckganges, die wir in den letzten J ah rzehnte n in allen Kulturlandern beob achten konnen , nichts anderes zurn Ausdruck bringt,
als S e I b s t h i 1 f ed e r F a m i 1 i e. Und zwar Selbsthilfe n ach
eine r Richtung, die, wenn sie eine n bestimrnten Punkt iiberschreitet,
di e Gesellschaft in ihrern Marke trifft. E s rnacht abe r das Charakteristikurn aller Selbs thilfe aus, daB sie, vo n der Verzweiflung getrieben , schlieBlich zu Mitteln gr eift, di e zulet zt nicht einrnal irn
Interesse derj en igen liegen , die sich ihrer bedi enen. Das ist dann
Rudolf Golds cheid: Frau enfr a ge und Menschenokonomie
der Moment, wo die Selb sthilfe mit del' Notwendigkei t eines Naturprozesses d ie Staatshil fe aus sich hervortreibt. In dieses Stadium
ist heute auch die Frauenfrage gelangt. E s steht in un seren T agen
desh alb bei gen auer Betrachtung del' gegebenen Verhaltnisse ga r
nicht mehr im freien Belieb en der Gesellschaft, ob sie del' F rau die
Erweiterung ihrer Rechte verweigern will oder nicht. S i e k a n n
di e s e h eut e v ie l me h r sch on zu ihr em ung e st 6rt en B e s t a n d n i c h t 1 a n g el' e n t b e h r e n.
Wie es zu allen Zeiten ber eits rein individualistisch die Kinder
waren, die die Gre nze del' m6glichen Versklavung del' F rau limitierten , so ist es auch in del' Gegenwart del' Nachwuchs, del' del'
R echtlosigkeit del' Frau sozial ihre notwendigen Grenzen se t zt. Angesichts des geringen Zustromes an N achwuchs lernen wir oko nomischc r
mit den Menschen iib erhaupt umgeh en , und m ii ss e n d ar u m
tr acht en, a u c h mit d el' Frau okon omi sch er zu
v el' f a h r e n . BloJ3e au flere MaJ3nahmen hierfiir arbei te n abe l'
nicht mit del' erfo rde rlichen Zuverlassigkeit. SoIl sich di e Frau
oko no mischer verbrauche n, so geniigt es nicht, d arauf abz ielende
Bestimmungen zu schaffen, di e bl oJ3 auf dem P ap ier ste he n , sondern die Frau muJ3 mit leb endigen Rechten ausges t a ttet sein , urn
sich, vulgar gesproch en. selbs t ihrer R aut weh ren zu konnen, Au ch
Rechte allein sind jed och nicht ausreichend, wen n diejenigen , den en
sie zu gute kommen sollen, sich diesel' nicht voll bewuJ3t sind, wenn
sie nicht iiber jenes Mindes tmaf von Bildung ve rfiigen , d as sie befahigt, vo n ihren Rechten auch den en ts prec he nde n Gebrauch
machen zu k onnen. Di e r e c h t lie h g es c h ii t z t e F r a u
muJ3 s omit e i ne ihr er R echt e b ewuJ3t e Fr au
se i n ; si e muJ3 R echt e h ab en, di e in ihr er ei g en en
K r a f t v el' a n k e r t sin d.
Dadurch unterscheid en sich ja die Menschen von toten Dingen,
d aJ3 sie so ent wickelt werd en konnen, urn in jedem Aug enblick als
au t omat ische Sich erungsregulatoren zu funktioni eren . In je hoher em
MaJ3e die einzelnen Teile eines Gesam tgeb ildes zu selbsttatiger Regula t ion befahigt sind, urn so mehr Gewahr ist dafiir vorhanden ,
daJ3 di eses Gebilde aus eigenem Antriebe au f seine beste E rhaltung
hinwirkt. Und wenn m an gen au zusi eht, unterscheid et sich del'
Organismus vom Mech anismus eben dadurch, daJ3 beim ers te re n
jede kleinste P artie sch on im Geiste des Ganzen funktioni ert, was
beim Mech anismus nicht del' Fall ist, und nul' durch sehr kunst-
27
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Menschen6konomie
lich e K onstruktionen indirek t k ompensiert werden kann. Di e
s i c h se l b s t schtit z end eFr au ist d arum e i ne d e r
w es entlich st en Sich erung en d er G es ellsch aft ,
j a s c h 0 n d e re i n z e I n e n F a m i li e.
Die Entwick elung der menschlichen Gesellschaft hat es gezeigt, daB iib er all mit steigender Kultur der Ubergang y om absolut istischen Verfassungssystem zum k onstitutionellen sich einste llte.
Im Absolutismus ist die groBe Mehrheit das willensose Werkzeug
einer kleinen Minderheit. Im ko ns t it u t ionellen Sys te m hingegen ,
das scho n seine Bezeichnung vo m Organismus herleitet, ist, im
Prinzip wenigste ns, alles au f wech selseitig versicherte Gem einschaftsarbe it au fgeb au t. Der Konstitution alismus h at nun bisher nur
den staatsbiirgerlichen Zu sammenhang bestimmt, abe r noch nicht
auf das Geschlechterverhaltnis iibergegriffen.
Di e V e r f e i n erun g d er g es ell sch a f tli ch en Struktur f a n g t
j etzt a be r a n, a uc h a uf g eschl echtlich en K on s tit uti 0 n a l i s m u s h i n z u w irk e n. Wi e sehr diese Tendenz im Zu ge der Zeit liegt, d as kann man am deutlichsten an der
Geschichte der Ehe erke nnen . Di e Ehe ist urspriinglich, ebenso
wie der Staat, reines H er r s c h aft s v e r h al t n i s gewesen.
Ein absolu t ist isches H errschaftsverhaltnis, das sich nicht nur au f
die Frau, sonde rn auf den gesamten N ach wuchs ers t reck te . Dieses
absolutistische H errschaftsverhaltnis wurde abe r im Lau fe der
Zeit Stiick fiir Stuck abgebau t. Der Mann als Vater h at die vo lle
patria potestas eingebtiBt, und nun gr eift die Einschrankung des
absolutistischen H errschaftsverhaltnisses auch au f den Mann als
Gatten tib er. Die Einschrankung der individualistischen R ech te im
Interesse des verfeinerten Ausb aues sozialer Rechte hat sich abe r
nirgends ohne heiBen K ampf abge spielt. Rechte sin d jene F ormen
von Eigentum, fur die sich der Besitzwille am wildeste n erei fert.
Trotzdem hat das individuelle Recht als rein es H errschaftsverhaltnis
iiberall k apitulier en mii ssen .
Und beim Mannesrecht wird es nic ht ande rs sein, als beim
Kl ass enrecht. Wie die bev orzugten Kl assen gezwu ngen wurden,
ihre absolu t ist ische n Vor rechte im konstitutionellen Sinn zu beschranken , so wird auch der Mann lernen , in bezu g auf das Gesch lechterverhalt nis ko ns t itu tione ll zu denken, und in erste r Linie
wird sich so d i e E h e a u s e i n e m a b s ol uti s ti s c h en
Syst em . in e i n k o n s t i t u t i o n e l l e s umw and eln.
28
Rudolf Goldsch eid : Frauenfrage und Menschenok on m i e
Wir erlebe n mithin heute in den intimsten Beziehungen des Menschen das gleiche Sch aupsiel, das uns die Geschichte in den groBen
sozialen Umwalzungen der letzten Jahrhunderte darbot.
Der
ge s c h le c h t l ic he K onsti tuti onalismu s m i t s ein er
we c h se lse i t i g e n S i c he r u n g ist die n o t w endig e
F or t s et z u n g d es s t a a t 1i c h en u n d s 0 z i a le n . Und
seine Verwirk1ichung wird d ann auch wieder verfein ernd auf den
staat lichen und sozia len K onstitutiona1ismus zuriickwirken . De r
Mann, der dazu erzogen worden ist, in bezug auf Ehe und Familie
k 0 n s tit uti 0 n ell zu denken und zu em pfinde n, wir d sic h
auch gegen die F ortschritte des sozia1en Konstitutionalismus nicht
meh r mit derselben Wucht wehren, wie jener, der gleichvie1, wie
'er auBerh alb der ehelichen Gemeinschaft dachte und fiihlte, innerhalb dieser, in jener Sphare also, in der er den gr6Bten Te i1 sein er
Zeit verbrachte, von absolu t ist ische m W ollen nicht loszukommen
vermochte.
K ein e M ensch engrupp e find et s o in un s er en
T ag en giin st ig er e B edingung en f u r i hre n B e f r ei u n g s k a m p f v 0 r , a 1s d a s w ei b 1 i c h e G es c h l e c ht.
Alle machtigen Triebkrafte der Geschichte arbeiten au f eine ver ande rte Stellung der Frau in der Gesellschaft hin. I h r eF 0 r d erung en sind nichts a n de re s a 1s d er Ausdruck
d e r L og i k d e r T at s a c h en s e 1 b e r. Das vergangene
J ahrhundert mit seinen groBen Errungenschaften auf dem Gebiete
der anorga nische n Naturwissenschaften drangte au f B e h er rs c hun g d e r au B e re n N at u r hin. Gegeniiber der Vervollkommnung des au lsern technischen Apparates spi elten Id ea1e,
die sich auf den Menschen bezogen , eine vergleichsweise untergeo rdne te Rolle. Mit dem Sieg der Entwick1ungsl ehre schoben
sich abe r die organische n Naturwissenschaften in den Vord ergrund,
rissen diese die Fiihrung in unserem gesamten Forschen an sich
und nun wird die L e b en s b e h er r s c hun g , in deren Mittelpunkt der Mensch se1bersteht, zum ob ersten Zweck all unseren
bewuBtenWirk ens. Die Menschheit reift zur bi ologischen Selbsterke nn t nis, b egreift den b i 0 log i s c h en un d 6 k 0 nom i s c h en W e r t j ed e s e i n z e 1 n e n M en s c h en 1 e b en s. '
Damit bricht fiir di e Frau als eigentliche Leb ensschopferin
die B 1 ii t e ze i t an. Auf allen Seiten muB m an jetzt beginnen ,
sich fur ihr Schicksa1 zu 'in teressieren . In ihrer Eigens chaft als
Rudolf Goldscheid : Frauenfrage und Mensc henoko nom ie
Arb e i t e r i n nimmt sie notwendig t eil an den Erfolgen der
Arbeiterbewegung, als M en s c hen pro d u z en tin muB sie
der Staat zwecks R ebung des organische n Kapitals zu fordern
suc he n, als Mit t el pun k t d e r F a mil i e kommt alles ihr
zu gute, was dem Schu tz dieser dient. Auch der internation ale
Ko nk urrenzkam p f urn die Vorher rschaft mit sei ner zunachst ste t ig
wach senden Summe von R tistungsausgaben muB im Verlaufe die
allgeme ine Aufmerksamkeit immer mehr au f di e Frau hinlenken .
Die einzelnen Nationen sind hinsichtlich der militarisch en Starke
in stetig zunehmendem MaBe auf Menschenreichtum ange wiese n .
D a a be r sink end e G eburt enzi ff ern bi s zu e i ne m
b e st immt en Gr ad ei ne unv erm eidlich e B egl e it er sch einung st eig end er Kultu r , steig end er Ln t e n s i t a t und s te i ge n de r Dichtigk ei t
d er A r be i t ist, s o k ann e i n Kultur volk inn erh alb d es B e st eh end en nur durch v erb e ss ert e O k on omi e im Ga t t u n gs p ro ze B, wi e durch
M ens ch en ok on omi e u b e r h a u p t B ev ol k erun g sil b e r s c h ii s s e e rz ie le n und hi er au s zi eht gl ei ch f all s i m st ark s t en Um f an g d as w eiblich e Ge s c h l e c h t V 0 r t e i 1. W ill auch ein Kulturvolk statt zugleich
organisch zu riisten , nur rein aulierlich waffentechnisch riisten,
will es mittels S c hun d pr o d u k t i on M en s c h die K onkurrenz au f dem Weltmarkt und urn die Weltmacht au fne hme n,
so muB es notwendig unterliegen. Die R ebung der organische n
Wchrkraft eines Volkes ist ebe n nicht minder wich ti g, wie die der
militarischen, und diese wird unter dem Rtickgang jen er ste ts auf
das Allerschwerste leid en.
M en s c h en 0 k 0 n om i e muB darum in ers te r Linie auf
S c hut z d e r 0 r g a n i s c h en R es e r v e n ausgehe n . Die
grofite organische Reserve tib er di e das Men sch engeschlecht je- .
d och n och ve rfiigt, ist di e F r a u. W as wir desh alb an der Mutter
zu leisten versaume n, wa s wir am Kind unterlassen , d as ist durch
nichts ande res gut zu m achen, ganz besonders wenn wir nicht mit
allen uns zu Geb ote steh enden Mitteln auf langsamer e Abn ut zung
der Arbeitskrafte iib erhaupt hinwirken.
In den ungeschiitzten
Arbeitskraften, in der gesellsch aftlich zu wenig en tlaste te n Mutter,
im notleidenden Kind wird der Urquell aller Produktivitat vergiftet, w i r d d e r B od e n , a u f d e m di e w e r t s c h a f -
30
Rudolf Gold scheid : Frauenfrage und Mensc heno k onom ie
f en d en K r aft e s e 1 b e r wac h s en, v e r w ii s t e t . F ehlt
t iefgreifende Mutterschaftsversicherung, mangelt umfassend organisierter Arbeiter- , Mutter- und Kinderschutz, so ent be hr t unser e
ganze so kostspie1ige Sozia1versicherung das 0 r g ani 5 c h e Fundament zuverl assiger Funktion .
Ohne Erweiterung der Frau enrechte, ohne gr6Beren EinfluB
der Frau auf die Geset zgebung 1aBt sich abe r auch in dieser Richtung nichts GroBziigiges 1eisten . Das hat vor allem das Beispiel
derj enigen Staaten bewiesen , in den en die Frau schon zur vo llen
po1itischen und biirgerlichen Gleichberechtigung aufgestiegen ist.
AIl e Einwand e , di e m an so ge ge n di e Erw eit erung d er Fr au enr echt e vo r b ri ng t , e n t p u p pe n
sich b ei g e n a u er e m Zu s eh en a 1 s di e sch1 ag end5 t en A r gum e n t e f ii r di e 5 e.
In der po1itisch miindigen
Frau wird nicht nur die Menschenokonomie, sonde rn auch die
All e
R a s s e n 6 k 0 nom i e die starkste Vertreterin hab en.
gro B en Ku1tur en, di e ve r f ie 1e n , sind d ar an zug r u n de g egang en, d aB si e di e g ew a1tig e s o z ia 1e
B ed e'utung d es B e v 61k erun gsprob1 em s nicht e r k a n n ten, daB sie auf sinken de Geb urte nziffern mit stei gende m
sozia1en Druck ant worte te n, daB sie wahnten, m it Pol i z e i
d en G a n g d e r K a us a 1 it a t au f h al te n z u k 6 nn e n.
Und end1ich und schlieBlich ste ht die Frau aus allen diesen
Grunden auch desha1b im Zentrum des Entwick1ungsprozesses,
wei1 sie die n at ii r 1 i c h e V 0 r k a m p f er i n g e g e n d e n
K r i e g u b e r h au p t sein muB. Irn Krieg geht die Menschenvergeudung, fiir die 1etzten Endes die Frau aufzukommen h at, im
gigan tischsten Malie vor sich. " G e b ar e n s 0 list d u , 5 0 11 s t
g e bar e n 1" das ist der ewige Appell der Gese1lschaft an das Weib,
solange sie nicht sp ars am mit dem Menschenmateri al umgehen
will. J a schon das bl oBe Wettriisten im Frieden hat, wie G r et e
M e i s e 1- H e s s ganz richtig hervorhob , " We t t g e b ar e n"
in einem Tempo zur notwendigen F o1ge, durch das nicht nur der
Frau die Teilnahme am kulturellen Aufstieg wesentlich erschwert
wir d , auch sol id e G at tun g s e r n e u e run g kann dabei
unmoglich gedeihen.
Darum darf die F rau in ihrem K ampf urn s Recht auch nicht
erlahmen. In weit tieferem Sinn, a1s dies Goethe eins te ns ged acht,
31
Rud olf Goldsc h eid : Frauenfrage und Menschen 6konomie
i m s 0 z i a l en u n d g e n e ra t i v e n S inn e , b esteh en sei ne
prophetischen Worte zu R echt :
"Alles Vergangliche ist nur ein Gleichnis,
Das Unzulangliche, hier wird's Ereignis,
D as Unbeschreibliche, hier ist's getan,
Das e w i g W eiblich e zieht un s hinan. "
D as iiberindividuelle Leben ist in der Frau am tie fsten verankert.
Wenn wir allezeit in ihr d as machtigs te Sy mbol der Fruchtbarkeit
erblick te n, so leitete uns d arum ein se hr richtiger Instinkt. Nun
schreiten wir heute von der un b e w u 13 t en in d i v i du e II e n
z u r b e w u 13 t en s 0 z i a le n F r u c h t bar k e i t em por .
Wir suchen auch den Fortpflanzungsproze13 zu rationalisieren und
zwar so, d a13 wir uns, wie Ni etzsche es gefordert, nicht nur fort- ,
so nde rn h in a u f pflanzen woll en. Der bewu13te Hinaufpflanzungsproze13 erforde rt abe r eine b e w u 13 t e F r a u, eine Frau, di e a u f
der vollen H ohe der Zeit steh end , sich kl ar ist tib er ihre hohe
Mission im gese llschaftl iche n Entwicklungsdrang.
In dieser E igen schaft vor allem pocht di e Frau a n die eh erne
Pforte , die zu r Zukunft fiihrt , verlangt sie, indem sie ihr R echt
fordert, e n t w i c k I u n g s r e c h t 1 i c h en S c hut z d e r G a t tun g. Und di ese Pforte wird ihl d arum auch aufgetan werden.
Was sie sprengt, sind die Ri esenmachte des Werdens selber. Treten
wir darum en tschlossen den " Gang zu den Muttern" an, d ann
werden wir d amit, wie F aust, zu den Urquellen des L eben s hin absteigen. D enn nicht nur der Frauen ewig Weh und Ach, a uch der
groflte Teil des Weh und Ach der Men schheit ist nur mit aus diesem
e i n e n Punkte zu kurieren.
Unsere Kultur wird bestehen oder ve rgehe n, je nachdem,
ob wir di e F rauenfrage im ti efsten Sinne zu losen wissen ode r nicht.
Und wir werden sie losen l Die Frau wird siegen, weil sie siegen
m u 13.
32
Von demselben Verfasser erschien:
Zur Ethik des Gesamtwillens. Eine sozialphilosophische Untersuchung. I. Band. Leipzig 1902.
. . . . . . . . . . . . . Mk. 10.552 Seiten
Grundlinien zu einer Kritik der Wi11enskraft.
Wien 1905. 196 Seiten . . . . • . . . . . Mk. 4.Verelendungs- und Meliorationstheorie.
1906.
•
Berlin
. . . . . . . . . . . . . . Mk. -.60
Entwicklungswerttheorie, EntwicklungsOkonomie,
MenschenOkonomie. Eine Programmschrift.
Leipzig 1908. 218 Seiten . . . . . . . . Mk. 5.Darwin als Lebenselement unserer modemen
Kultur. Wien 1909. 111 Seiten . . . . . Mk. 1.50
HOherentwicklung und MenschenOkonomie. Grundlegung der Sozialbiologie. I. Band. Leipzig 1911.
Mk. 15.664 Seiten
Friedensbewegung und MEmschenOkonomie. Leipzig 1912 . . . . . . .
. Mk. -.50
Monismus und Politik. Vortrag . . .
. . . . Mk. -.50
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