Subido por Rossember Alape

Zumbusch - Der Mnemosyne-atlas (2005)

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ROMBACH WISSENSCHAFTEN, REIHE LITTERAE
hcrausgegdKn von Gerhard Neumann und Giintcr Schnitzlcr
Band 121
Frauke Berndt/Christoph Brecht (H~.)
J\.ktualität des Symbols
ROtv\BACH fEl VERLAG
Auf dem Umschlag: Fraw;ois Boucher: Ruhendes Mädchen (I 7S2)
Inhalt
FRAUKE llEI:l.NDT
Symbol/Theorie ........ .
Ccdmckt mit Unterstütmng der Sparkassen-Finanzgruppe Hessen-Thüringen,
der vVilhclm-Hahn-uml-Erben-Stiftung sowie des Instituts für Deutsche
Sprache und Literatur II dcrJohann Wolfgang Gocthe-Universität Frankhirt
am Main.
7
Symbol und Wissen
DIETER MERSCH
Paradoxien der Verkörperung. Zu einer negativen Semiotik
des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
:l:l
ROBERT STOCKHAMMER
Darstellung der Metamorphose, wissenschaftlich und poetisch.
Ansätze zu einer anderen Theorie des Symbols bei Goethe
S:l
CORNELIA ZUMilUSt:H
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I )cutschcn Natt<Jnalbtbhograhc; dctatlhertc lnbhograhschc
fldiCII sind im Internet iibcr <http://dnb.ddb.de> abm!bar.
------
j
------·-------------
Der Mnemosyne-Atlas. Aby VVarburgs symbolische Wissenschaft
STEFAN RIEGER
Scheinbilderfolgen. Zur Mediengeschichte des Symbolbegriffes
WOLFGANG STRUCK
Dokument/Symbol/Film. Der ruhige und kalte Weg
des Beobachtens ...................... .
1
0
200fi. Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG,
l~reiburg i111 Breisgall
l. Au!lagc. Alle Rechte vorbehalten
Lektorin: Dr. Eddgard Spaude
Umsclt!aggcstaltung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG,
Freiburg im Breisgau
Satz: post scriptum, Emmcmlingen/ Hinterzarten
I lcrstellung: !{omLach Dmck· und Verlagshaus Gmbii & Co. KG,
Freiburg in1 Breisgau
l)rintcd in Gcnuany
ISBN 3
7~J:~O-~J:JRI-iil
77
I l!i
Symbol und Figur
!HINZ
J.
DRÜGH
»Allenthalben auf seiner Oberfläche«. Zur Präsenz des Körpers
im klassizistischen Symbol . . . . . . . . .
..
J:l!)
JOACIIIM JACOß
nVersinnlichung«. Das Symbol als Darstellung des Schönen
und die Materialität der Literatur . . . . . . . . . . .
. . . !Ii l
CORNELIA ZUMBUSCH
Der Mnemosyne-Atlas
Aby Warburgs symbolische Wissenschaft
Eine Beschäftigm1g mit dem Symbol kann kaum tunhin, die folgcnn:iche
Opposition von Symbol und Allegorie, wie sie um lHOO lormulien wurde.
zur Kenntnis zunehmen. Goethe wertet in s·:iner bekannten Cegeniibustdlung der beiden ßezeidmungsformen das Syll!bol auf Kosten der Allegorie
auf. Die Allegorie bleibe willkürlich und konventioneiL wo das Symbol die
»lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerf(nsrhliche!l« biete. 1 Die
Allegorie bezeichne direkt, das Symbol hingegen indirekt und :tl!(leuttulgsweise; die Allegorie sei deshalb rational auflösbar, w~ilu end das Syillhol
anregend wirke, ohne ganz auf den Begriff gebracht w~nlcn zu kiiinltll.
So gerät das Symbol in die Nähe der ästhetischen Idee, wie K~ult sie f(nmuliert hat, und wird zum poetischen Prinzip jm· .>c, die Allegorie hingegtn
gilt als kalte Form der bloßen Bezeichnung. Damit geht l,ei Schelling und
in seiner Nachfolge die Vorstellung vom »Eins-Seiw< von Gegenstand und
Bedeutung einher. 2 In Creuzers Zuspitzung auf das >•plastische Symbol" der
griechischen Götterskulptur wird der exklusive Bezug de>; Symbols auf das
»Unaussprechliche<< schließlich zur »Erscheinung des Giitt!ichen« stilisien: 1
Wo die Allegorie nur stellvertretend bedeute, sei das Syntbol die nvcrsinnlichte, verkörperte Idee selbst<<. 1
Die tendenziöse Unterscheidung zwischen Symbol und Allegmic wu rdc
im20.Jahrlumdert in so unterschiedlichen Denkschulen wie Il~nuennHik
und Dekonstruktion fortgeschrieben- mm allerdings tllltcT dem veräll(kr·
ten Vorzeichen einer Vorrangstellung der Allegorie aus dcuselhen Gründen,
die es vormals als ästhetisch weniger taugliche Darstellung~Jorm erscheinen
ließen. So verhält sich Gadamer etwa dem Symbol gegenüber skeptisch,
weil es seine Herkunft aus der Gnostik nicht verhehlen kann; de Ivlan spielt
Jnhann \Volfgang Goet:hc, lVIaxin1cn und ReHexiouen. iu: dcrs .. \Vl rL_·. lig. \'Oll Eridt
li·ullZ u. a., München ''19~!8, Bd. 12. S. 365-547. hier S. -171. Zm ( :csdtidltc dicsn Un~
terschcidung informiert Bengt Algot Scm:nscn, Allegorie und Synt!J,,J. Kiinigstcin EJn.
2 F.\.Y.J. Schdling, Philosophie der Kunst. in: dcrs., Sännntlichc \Vnkc. hg. voll L F~ A.
Schdling, Ild. 1.5, 185~J. S. 407.
3 Friedrich Crcuzcr, Syu!Oolik und 1\-lythologic dct alten \~·ilkCI bcstJll.dcrs dvr Cri,·dtcu.
Leipzig 1819, S. 6cl.
J
Ebd, S. 70.
78
Con.dia Zumbusch
die allegorische Einsicht in die Uneinholbarkeit des Sinnes gegen die Präsenzmetaphysik des Symbols aus 5 Die klassisch-romantische Überhöhung
des Symbols als Einheit von Erscheinung und Bedeutung wendet sich im
'20. Jahrhundert also gegen es selbst. Läßt sich vor diesem I fintergnmd ein
ästhetischer Symbolbegriff überhaupt noch jenseits der strikten Oppositionsbezielnmg von Symbol und Allegorie denken?
Abseits möglicher Wertungen bleibt zunächst festzuhalten, daß die Allegorie
als diskursives Phänomen und genuin rhetorisches Verfahren gilt, das Symbol dagegen eng an die gegenständliche Erscheinung und die visuelle Bildfmm gebunden ist. Die Vermutung liegt nahe, daß man bei der Suche nach
einer aussagekräftigen Symbolpraxis auf dem Gebiet der bildenden Kunst
fündig werden wird. Der Ort der Symbolforschung in der Kunstgeschichte
ist die Ikonologie, allerdings wird die ikonologische Methode meist als eine
Art pragmatische Symbolgeschichte gehandhabt, die lediglich Bildmotive
versammelt und eutschlüsselt. Der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Warburg jedoch, der als Gründungsvater der ikonologischen Methode
gilt, betreibt Ikonologie nicht als bloße Dekodierungspraxis. Die praktische
Ikonologie des Spätwerks, für die vor allem das Großprojekt des A1nemwyneAtlas einsteht, beruht auf theoretischen Vorgaben, die Warburg bereits drei
Jahrzehnte früher formuliert hat. So fragt er in dem bislang unpublizierten
Fragmem SymbolilmllJ al1 Umj{tltgsbeJtimmungvon 1896 nach den anthropologischen Grundlageu der Symbolbildung. Dort bricht er mit der im Verlaufdes
20 . .Jahrhunderts in Verruf geratenen klassisch-romantischen SymboltraditiOJI. ·li:otz oder vielleicht auch gerade wegen seiner Abkehr von einem präsenzmetaphysischen Syn:!Jolbegriff wertet \Varburg das Symbol auf. Symbolismus, so Warbm-gs Uberzeug1mg, ist eine eigene >Stufe des Denkens<.
Er ist der Aufbssung, daß man es beim Symbolisieren mit einer eigenständigen und nicht begTifllichen F<.mn der Weltaneignung zu tun hat.
'Varburgs Symboltheorie ist von Imeresse, da sie die Opposition von Symbolund Allegorie und damit die romantische Aufladung des Symbolbegriffs
,r;
)),Der ~nodcrne. Syu1holbegriff(<, so Hans-Georg Cad.:une1~ ist ohne );seine gnostische
hmklloll u11d rhren metaphysischen Hintergru11d gar 11icht zu verstehen<•. \1\iahrheit
und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübi11gen "1990, S. 79.
Pani< lc Man hält die Einheitsvorstellung fiir eine »hartnäckige Sclbstmystifizierung« des
Symbols: »\1\iährenddem das Symbol die Mög-lichkeit einer Identität oder Identifikation
postuliert, bezeichnet die Allegorie ZLinäehst eine Distanz zum eigenen Ursprung, und
durclt rhrcn VerZiclll auf deu vVunsch und die Sehnsucht nach dem Zusammenfallen
stellt sie ihre Sprache in die Leere dieser zeitlichen Differenz«. Allegorie und Symbol in
der europatschen Friihromautik, in: Typologia Littcrarum. Festschrift für Max Wehrli,
Zundt I 96~J, S. :liJ:J-125, hier S. 424 f.
lkr
JHnmw~)'JJI'-Atlas
7')
umgeht. Statt dessen folgt vVarburg dem VOll Theodm Fcclmn l(n mulinten Programm einer >Ästhetik von Unten<, die in der Aht2,rem.ung von du
idealistischen Ästhetik Kunstproduktion und ihre Rezeption von ihren sinnesphysiologischen Voraussetzungen aus beschreibt. in diesen Rahuten gehört auch die Einfühlungsästhetik Friedrich ·nteodor und Roil~.Tt Vischcrs.
die der Symboltileorie im ausgehenden I~- Jahrhunden bereits eine neue
'Vendung geben. Die enge Bindung des ~)ymbo!s an die sinulidte \•Vahmehmung und an Formen der ästhetischen Erfahrung wird hier psychophysiulogisch ausbuchstabiert uud natunvissenschafi.lidtllmdicn. '·\'at hmg nimmt
mit seiner Symboltheorie aber nicht nur die wissenschaftsf.!,tsdtichtlichetl
Strömungen der Einfühlungspsychologie auf und speist sie in die Kunstwissenschaft des 20. Jahrhunderts ein. Auf dem Weg über die Ethnologie
erweitert er seinen ursprünglich rein kunstwis:-;enschahlichen Zugriff und
haut seine Symbolästhetik zu einer Kulturtheorie des Symbols· aus. \Varburg
f(mnuliert in seinen frühen theoretischen Versuchen die Ubnzcug1ntg vou
einem symbolisch vermittelten vVeltzugang und die Einsicht iu die ntediale
Verfaßtheil von Kultur. Damit nimmt er m. E. wichtige Aspekte der ( :assirerschen Symbolphilosophie vorweg und öffnet das Projekt der kunsthisto
rischen Symbolforschung auf eine Theorie dn symbolischen Fon11cn hin.
In Warburgs Aufzeichnullgenlaufen Asthetik, \NahmelntHtngspsychologie
und Ethnologie zusammen und formieren sich zu einem kultttiwi~;sen:;cha!"t­
liclten Symbolbegriff
Im folgenden werde ich rekonstruieren, wie vVarl>urf.!, die einfühlllllf.!,S;isthc
tischen Positionen zu einem kulturtheoretischen Symbolbegriff umforlllt.
Auf dieser Grundlage milchte ich nach der Bcdcuttmg des ~)ymbolischen
für Warburgs kulturwissenschaftliche Praxis !l-agen. vVarbu1 g liefen nälil
lieh nicht nur eine Wissenschaft uom Symbol, sondern auch eine \ Vissenschaft in Symbolen. Als Vorbild für diese symbolische Wisscnscha fi. bEt sich
überraschenderweise Goethe ausmachen, auf den sich \Varlnn g in seinen
Notizen zur A1nrmO.I)'IlC bezieht- allerdings nicht auf dessen Bcn~erkungcn
zum poetischen Symbol, sondern auf die besondere Empit ie der Coetheschen Naturforschung. \Varbtng·s Bilderatlas folgt eiutm 1'1 imat der Anschaulichkeit. der auch zu den Prämissen des Natmwissmscltaftlns Goethe
zählt. Die a1;schauliche Erkenntnis im Aper<;u und die sylllllolische Darstellung des Wissens gehören zu den Einsichten Goethes, clil" Vvarbmg von
der Natur- auf die Kultunvissenschaft überträgt. Dmch diese Ubcrtragung
kommt schließlich eine altemative 'lladitionslinie des Symbols in den 'Vissenschaften zum Vorschein, die auf eine poetische lhJerhiihuug dc:s Spnbols
verzichtet.
I)()
C:ornelia Zumbusch
Aisthesis und Ästhetik des Symbols
»Circt KO Gestelle mit circa l 160 Abbildungen. vVenle circa (i 'Tafeln zur
Erkenntnistheorie und Praxis der Symbolsetzung aufstellen (A ß C D)<< 6
notien Aby Warburg 1929 kurz vor seinem clod: Die Rede ist l~ie;. V~Ill Hitderatlas Ainnno.l)'llt, mit dem er seine Forschungen zur antiken ßildüberliefenmg in der Neuzeit zusammenfassen wollte. Zu den theoretischen Grundlagen des Nlnmw.>yne-Projekts gehört dabei die Vorstellung von einem europäischen Bildgedächtnis. Einmal geprägte Bildformeln, so die Annahme,
wenlen in verschiedenen Medien wie in einem kollektiven Gedächtnis
gespeichert und durch wiederholte Aktualisierungen umgedeutet. Formal
besteht der AinoJW.I)'IW-Atlas aus abphotographierten Bildtafeln, den »Gestcllew<, auf deneil Abbildungeil von Kunstwerken- also Fresken, CE1felbildern,
Skulpturen um! Architekturelementen - mit Gebrauchsbildern - darumer
Briefinarken, Werbegnfik oder Zeitungsbilder - montiert sind. Warbm-g
hat aber weder die sechs Tilfeln »zur Erkenntnistheorie und Praxis der
Symbolsetzung aufstellew< können, noch hat er den geplanten 'lextband
geschrieben, der den Bildband A1uemo.~vne hätte begleiten sollen. 7 Es ist zu
venmnen, daß Warburg dort die Filiationen, Beziehungen und Verwandtschaften zwischen den Bildern erläutert und ihre Zusammenstellung zu
einem Stück europäischer Kulturgeschichte gerechtfertigt hätte. Berei~s in
den Bildmontagen soll sich aber Kulturgeschichte zeigen, wie Warburg sie
sieht: als Geschichte vom Einbruch und der schrittweisen Aneignung der
Antike in der Neuzeit. Er ist der Ansicht, daß die Übemahme antiker Bilder
und Symbole in der Kunst der Renaissance nicht nur von kunsthistorischer
sondern vor allem auch vou kulturhistorischer Brisanz ist. Warburg forscht,
() Aby \Varburg, Ttgebüchcr der Kulturwissenschalt liehen Bibliothek \Varburg, in: ders.,
CesanHnclte Schriftcu, hg. VOll Horst Bredekamp, Michael Diers tl. a., Bd. 7, Berlin :2001,
S Sfil.
7
VVarbu!?. sammelte von 1924 bis zu seinem Tc>d 1929 das Bildmaterialund arrangierte
es auf Iafclll, ehe er auch zu \'<ntriigen und Ausstellungeil nutzte. Zwar hat vVarburg
ntcht alle 70 gepla!llen CElfdn fertiggcstellt, Anlage und Aufbau des Atlas sind aber aus
zwei abphotographierten Versionen von 1928 und 1929 weitgehend zu ersehen. Seit dem
I I erbst 2000 liegt im Rahmen der Gesammelte!I Sr !rrijtc!l eine Ausgabe des Atlas vor, welche
dte >letzte Serie', die 1929 dokumentierte V..lrversionmit 63 fertigen Tctfeln, wiedergibt.
Schlechter steht es um die 'IcxLteile: Neben den unveröffemlichten AllltJIWJ)'IIe-Gm 11 dbrf!,'I/J}cn uud klnmwqJ!It-}{otizen, zwei 1-Ieftcrninit handschriftlichen \ 1enncrken- existiert als
einziger Baustein .tlir den Textband die Ml!t11W.I)'IIt-Eilllcituug; abgedruckt in: Ilsebill Barta·
Fhcdl, Christuph Geissmar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in
der Kunst, Salzburg/Wien 1992, S. 171-173.
BI
aber nicht nach vermeindich archetypischen lnhalten dn Bilder, sondem
fi·agt nach den wechselnden Funktionen, die t; nmal identischc Bildntotiv,~ in
verschiedenen Epochen und Kulturen iibemehmen. Signifikant ist vVarbmg
zufolge gerade die Arbeit an den in der Antike vorgqn:if.',teJJ Bildl(nutm.
Nach welchen Kriterien arrangiert er 11un diese ungeschri,·hcllt Kulturgeschichte in Bildern?
\1\Tarburg organisiert seine Bildgeschichte 11111 er dem Aspekt der Statik und
Dynamik künstlerischer Stilfonne11. Ein Kemthema des Mntii/!I~J'III'·Atlas ist
die Körperdarstellung in der bildenden Kunst. illl Zentnun stehen besondere, in der Antike bereits typisierte Körperumrißfortncn, die im J'vlittcbltcr
zwar verdrängt in der Frührenaissance aber wiederentdeckt wetden. Es
handelt sich t~t:l >Pathosfonnelll<, wie er die vorgqn:1gtnt Ausdrucksfmmen für extreme innere und äußere Bewepmg ttUHll. \Varburg arlll'itet
heraus, wie sich die Frührenaissance von den unbcwegteu Kiirpnfonuen
der mittelalterlichen Kunst mitsamt ihrem an der Stolllichkeit imeressierten
"cll-achtenrealismus<< ablöst und mit Hilfe d.=r bewe~liclten Kiirpenlarstellung der Antike in der Hochrenaissance zu t·inemHeuen Idealstil gclangt.H
Dies mündet schließlich in eine manieristische UberiJcWef.',ltng und den
stereotypen Einsatz bewegter Fonneu im Barock. Zwar bilden Rc:alismus,
Idealismus und Manierismus die konventioüellen Kriterien, die \•Varbmg
zunächst an die historische Stilemwicklung <mlegt. Die I( mudhafte Darstclluno·b des »beweoten
Lebens<< bildet aber den eigentlichen l'aratnetcr, mit
b
dessen Hilfe er die Abf(J!ge herkömmlicher Epochenstile nett charakterisiert. Dem Problem der Darstellung von Bewegmtg gdll \Varbmg bereits in
der Dissertation mm »bewegten Beiwerk<< in Botticellis nutL<tuoa von 1H~J:l
nach. 9
Zur gleichen Zeit bemüht er sielt, dieses Problem in dm Gli!nr!ll'!}'ltrf,·n Brur!t.>liicken w einer I!WIIistischen Kun,fjJsvdwlogie am h theoretisch fl'stct zu fassen.
Die unpublizierte Aphorismensammlung der Cnmdlq:rndm Rm1 l11tiit l1c ist ein
Selbstverständigmigstext, in dem er sich iiLer die walHuchnnHtgspsychologischen Grundlagen der Kunst klanuwenlen versucht. \\T;tlllttehmung,
so die Basisthese der Grwullegou/m Brudntiirhc, ist illlmer die Reaktion auf
bewegte Objekte der Außenwelt. Bei der Kunst handelt es sich utneinc
Form, sich auf die we('hselnden Eindrücke eimustellen. U ntcr der Uberschrift »Kunst und Denken<< notiert vVarbmg: »Die Kunst ist eine bc:sondnc
<..
s vVarlmrg, T:1gebücher der Knlturwisscnscha!tlichc:n Bibliothek
9
'Vatlntr>~. S. 2'.:3.
Aby \Varburg, Saudro Botticcllis C'dmrt da l~'J/111 und l·l-iih!lllj.!,, in: der:, .. CcsalllJIJd(c
Schriften, Bd. I.!, Berlin 199H, S. 1-·liO, hier S. S.
Comelia Zumbusch
Der Jr/1//'lt/IJIVJ/t'-Atl.is
An wie man gegen die eingedrückten Bilder reagiert<<.IO Kunstproduktion
ist nicht nur ein~ Reaktion auf Eindrücke, sie ist auch eine Ordnungsleistung, ehe dem Wissenschaftlichen Zugriff vergleichbar ist: »Das Ideal in der
Kunst und die i\bstraction in d[cr) Wissenschaft entstehen aus demselben
vVunsche zu ordnew<. 11 Die Idealisierungstendenz in der bildenden Kunst,
also die Genese idealisierender Darstellungsformen in Antike und Renaiss;~nce, ordnet er dem Abstraktionsvorgang in den Wissenschaften gleich.
»Kunstb1ld<< und »Denkbi!d<< umerscheiden sich aber, da das Kunstbild mit
»Ideenassociatiqnew< arbeitet, die im >>Denkbild<< umerdrückt siwJI2 Unter
»Ideenassociationew< versteht vVarburg weniger den suggestiven oder konnotativen Aspekt der Rnejition, sondern vielmehr die »Theileigenschaft[en}<
emes Objekts, die im Akt der Produli!tim »isoliert« und »dauerlJaft« mit einem
,;häger« verbunden werden. l:l Rhetorisch formuliert fimktioniert die künstleiische Bildfindung also nach dem Prinzip der Synekdoche. II
vVie vVarburg bei der Arbeit an der Mnemwyne hervorhebt, verbindet das
symbolisch~ Kunstbild aber nicht nur Elememe, es verdichtet sie auch. ,~Te­
der symbolische Akt", so notiert sich vVarburg 1927, vollzieht sich als »VcrDichtung«.15 Die Doppeldeutigkeit von Komprimierung und Poetisierung
H ]DIChtung«) hat vVarburg im Manuskript selbst durch ein 'Hennungszeichen kenntlich gemacht. Damit sind die beiden Operationen benannt~ die
Freud al~ Mechanisi_nen der Sprache des Unbewußten und nach ihm.JakoLscnJ als Sprachfunktionen überhaupt beschreiLt. Verdichtung und Verschielmng, wie Freud die beiden "Werkmeister<< der' liaumarbeit in der 1i-atmzdrutungnennt,1ti ninum.Jakobson auf, faßt sie im strukturalistischen Vokabular
10
Al,y vVarburg, \,VIA [\Varbmg Instilttte Archive], II!A3.!.2.1 Grttndlegende Bruchstücke
Zll CIIltr
pragtnatiscllcil Ar1sdruckskunde (Inonistischen Kt!Ilstpsychologie), AplHJrisnuts
,Jll. Ich rbnkc-'k~1 vVarbmg lnstitwen für die Einsicht in vVarburgs ttnpubliziene Scluil'
tc11 uud fur d1c Erlanlnus, daraus zu zitieren.
ll Ebd.
11
Ebcl., Aphorismus 52,
H:l
als paradigmatische uud syntagmatische Funktion der Sprache und bezieht
sie von dort aus auf das Begriffspaar Metapher und Metouynl!e. Rekmnnt
nun Warburgs Rede von den nldeenassociationen" auf lbs nletonyuiisclil:
Primip der Synekdoche, so bezieht er mit der Rede von d~1. Vcnhclmmg
den komplementären Mechanismus der Metapher in seine Ubnlcgungen
mit ein. Seine strukturelle Beschreibung des Symbolisierungsaktes umfa!\t
damit sowohl die metonymische Verschiebung als auch dit· metaphorische
VerdichtungY Das Symbolleistet die lsoliemng uwl Verbindung, als<; die
Selektion und Kombination einzeluer Eigen:;chaftm. die für ein Objekt emstehetl. Die assoziationspsychologische Lehre von den "]lt:l itcs pnceptiOilS"
und ihrer Verkniipfung, ts hier als eingedrückte Bilder finuiercud, informiert
dabei das Projekt seiner »mouistischen Kunstpsyclwlogi<e". Symbolisieren
heißt also, wechselnde Eindrücke durch Verschielnmg und Verdichtung zu
Bildern zu formen.
Dieser Ansatz ist im Rahmen einer Symboltheorie Zlllllindest ungewiihnlid1.
Mit der Frage nach der Darstellung von Bewegung haut 'Varburg ztm~ichst
einmal auf einem starken Nachalmnmgsbegriff auf, I!J dc1111 er begTclit bereits die graphische oder malerische vViedergabe eines bewe:~tm Körpers
als eine Symbolisierungsleistung. Indem er aber die Funnalisiemng bewegter Körper in der bildenden Kunst mit dem vVahmclnnungs vorg:mg VOll
bewegten Objekten parallelführt, beschreibt er kiinstlcnsch~ l~a.chalniiUIIg
nach dem \hrbild der Objektbildung. Damit ist das SynllJoltsltren mein
mehr zeichentheoretisch als Verbindung von Bild und B~deutung gebflt,
sondern zum Akt der Verarbeitung von wechselnden Eindrücken erklärt.
Symbolisieren heißt fiir vVarburg nicht, ein Bild an die Stelle einer Idee
oder eines BegTiffs zu setzen, sondern einen >Reiz< durch cu' Bild _w substituieren. Angesichts dieser Gleichschaltung von W'ahmelnmmgsb1ld und
Symbol bleibt zu fragen, ob Warburg die Leistung des iisthcttsc hw Symbols
angemessen beschreiben kann. Sein Verhältnis zu zwei wichtigeu Rcfercm-
1:1 El"L. Aphorismtts S3.
11
vVarburgs Überlegungen zum bewegten Beiwerk bei Botticclli zeigen, wckhe Formen
de] metonymischen \'crschiebung er im Auge hat. Laut vVarburg überträgt sich hier
dte Darstcllttug der KiiJ]Jerbewegung auf das Haar und die flatternden Gewänder die
schließlich Zillll abstraklen Linieuzug· des Ornaments gerinnen. Georges Didd h' bc ·1
1
mann beschreibt rhesc Verschiebung der Aulinerksamkeit vom Körper auf das »bewegte
B~nvcrk«' In BotticcHI.s Pnn!m'tra n1it Frcud als •>deplacetncnt«. L'Iu1age survivante. I-fis,
15 tcmc dc l an et temps des fautomes selon Aby Warlmrg. Paris 2002, S.
16
29S.
\Varburg, 1agebüch~•, der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, S.l--!2.
S1guumd l•reud, Dte lratundcutung, In: ders., Gcsanmwhe \t\lerkc, hg. von AHna Freud
u.a .. Frankflut a.M, 1999, Bdc. 2/3, S. 313.
17 Damit rückt sein Symbolbegriff in die Nähe der stntktttLtlisli<chm SprcHhdtcorie: ckiln
auch Ro 1nanJakohson stellt fest: ))Eine gewisse 1< ivahliit ~·'_n~cltut den m~·tonyull>:,c!Jcn
und 1nctaphorischcn I>arstelltmgs\vcisen [ ._ .. J konunt hc1 jCdcm symb:Jhsl hcn l~~ozcl~
zurn Vorschein«. Der Doppelcharakter dt"r SpracLe und die PoLu it~it ZWISL hn1 f\'kl<~phn
rik und _r.,..~[etonyu 1 ik, iu: Anselm Ilavcrkamp (11!-j.). Theorie der t\ltlapheL lbrmst<H.h
18
I~
198'!. S. 163-lH, hier S. 173.
vVarburg, Gmn<llegendc Bmchstückc. Aphorismus 2_,J 1 b).
. _
,
Folgt 111 an1Zvetan Todorovs Darstellung der romantischen SymlHdthuntL·, so gdit die
Auhvertung des Sy 1n1Jols wn lHOO gerade nlit eine~· Abwcmlullg vom Naclialun~Jngsbc
griff einher. Zur ••r<Hnantischeu Krise<( und delll -•Ende der N~1chahwu!lt-;" \·gl. S) mbol·
theorien, 1\ibingcu 19%. S. 14()f.
C:omelia Zumbusch
textm, F. '1 'h. Vischers Aufsatz Dw Symbol und R. Vischers Ober dw oj!tische
Hmnf:!,eßild, zwei Gründungsschriften der Einfühlungslehre, bietet hier weiteren Aufschluß.
In einem auf 1807 datierten Kommemar zu einer Aufzeichnungvon 1800 bemerkt vVarburg rückblickend: n(l]n diese Zeit fällt die Lektüre von Vischers
Symbol«. Dazu vermerkt er, das >>J\1etaphysische der Dichteq)hantasie«
werde hier mit der Frage nach >>Ideenassociation und Anthropomoq1hist-uus« in Verbiwlung gebracht. 20 Warburg sieht in der Einfühlungslehre offenbar die Möglichkeit, die idealistische Kunstmetaphysik auf eine empiristische Kunstpsychologie (nlcleenassociation«) zurückzusetzen." I Dazu bezieht
er sich auf den 1887 erschienenen Aufsatz F. Th. Vischers, der das Symbol
aus seiner Beschränkung auf die Bildsprache herausnimmt und es zu einer
Bestimnnmg des Ästhetischen überhaupt einsetzt. Das Symbol stellt für
F. Th. Vischer eine Kategorie bereit, mit der er die Ästhetik nicht mehr als
Lehre vom Schönen, sondern als Untersud1ung der Bedeunmgskonstitution
in cier Kunst betreiben kann. Er macht es für eine Ästhetik geltend, die keine
bl:1Ec, sondern nur eine bedeutungsvolle, nämlich die im Akt der Einfühlung
1111t Bedeutung belegte Form keimt. Eine >>inhaltslose Form«, so behauptet
sein Sohn Robert, könne es überhauptnicht geben, da wir als Betrachtende
einer jeden Form >>vermöge eines Aktes der Übertrag1mg unseres eigenen
Gefühles einen seeleuvollen Inhalt zuschreiheu«.22 Nicht das Kunstprodukt,
sondem die aktive, einfühlende Kunsterfahrung ist mithin symbolisch.
Diese einfühlende Formerfahrung erklärt R. Vischer mit den Mitteln der
W~1hmelunungsphysiologie. Einfühlung meint bei ihm die physiologische
Wtrkung der Nervenreize auf die Vorstellung. Weil sich das Denken inNervenerregungen vollzieht und die Nervenerreg1mgen ein Double des vVahrgenotm~leuen herstellen, s:)llen sich Eindrücke im Wahrnehmungsvorgang
symbolisch abb!lden: "Wtr werden annehmen dürfen, daß jeder geistige
Akt lil bestimmten Schwingungen - und wer weiß, welchen? - Modifikationen des Nervs sich iu der Art vollzieht und zugleich reflektiert, daß diese
:w 't\Tarbu1 g, Crundkgeude
Bruchstücke, Aphorismus 50.
21 Damit trifft er die von F. Th. Vischer selbst angegebene Intention: »Der Symbolbegriff
tst nut crneutcn1 Interesse wieder aufgenonuncn worden, nachdenl er in der Wis.":>Cll-
schah zur Zeit der Rotuantik zwar vid gegolten hatte, aber nicht 1nit der Nlichternhcit
behandelt \:'orden ::var, vvic wirjetzt verlangen; tnan hat insbesondere seine priuzipiellc
Bedeutung m der Asthctik schärfer erkannt«. Friedrich Tbcodor Vischer, Das Symbol
[ 18H9I, in: dcrs" Kritische Giinge, hg. von Rooert Vischcr, Leipzig" 1922, fiel. -!, S. -t204S6, hier S. cl20.
~U Ro!Jcrt Vischcr. fTbcr das optische Fonugcfühl [18721, in: ders., 3 Schriflen Zllill ästhetischen Fonnproblem. Halle 1927, S. L
Der AllltiiiO•i'III'·Atbs
sein Bild vorstellen, daß also ein symbolisches Abbilden schon itn lnnern
des Organismus stattfindet«.~:! Symbol meint hier nicht erst tla.' siehtb;uc
graphische Zeichen, soudem schon das innere vVaht ueltnnlllgsbild. R. Vischer schließt dabei die Bereiche VOlt Motorik, Perzeption und Kognition
kurz" Das perzipierte Objekt verbindet sich in der Vorstellung tnit einn
leiblichen Empfindung des Körper-Ichs, sei es motorisch odu sensorisch,
so daß die wahrgenommenen Erscheinungen die »Sdbstvmstclluugen« ill
"sensitiver oder motorischer Form<< auch wieder mobilisin.~tt.'!l Beittt ~;e­
ben eines Linienzuges etwa bewegt sich das Auge, und diese Bc1vcgung hewirkt "ein antreibendes Beleben der toten Erscheinung, ein rhythmisches
Beschwingen und Flottmachcw< der abstrakten Linie."" R. Vischcr \Jcteitt'l
die Einfühlungstheorie also neurophysiologisch auf und wandelt auf diese
vVeise die Symbolästhetik in eine Lehre vmt der Aisthesis uttl.
Im Anschluß an R. Vischer rückt auch Warbmg die sinncspltysiologischm
Voraussetzungen des Symbolisiercns ins Zentmm. Den Akt der Symbolisierung- den ~~Vergleichsakt<< -begründet er in einem Notat der Gnuullc.~t!ld,·n
Bmch.rtüchewie folgt: ~~Die Beharrungstendenz der durch \;Vahmdunung vmt
Körperbewegungen empfangenen localisirten [sie] Viln atim ltll bei 1letwt 1
Eindrücken bewirkt den Vergleichsakt«.~li Neue Bewegnngsrci1c, welche die
Nerven in Schwing1mgeu versetzen, werden im Rückgriff auf bereits ver:nbeitete v\lalnnehmungeu abgefertigt. Im Vi1bbular der NcmnJ•hysiologit'
kann Warburg die Symbolbildung als Eff~kt dn physikalisch~n ~;chwinglllt·
gen der Sehnerven beschreiben. Damit bewegt er sich in der ·Ltt auf dem
Boden der Einfühlungstheorie, wie sie R. Vischer erarbeite~ hat. vV;ilncnd e·,
allerdings vom unbewegten Liniemug ausgeht, der beim Sehen belebt und
in ein inneres Symbol übersetzt wird, behauptet v\larbmg· die Korrespondenz vm1 gesehenem, bewegtem Kiirper und der Bewegung des in Scl11viuguug versetzten Nervensystems. R. Vischer setzt bei der ;istl tel iscltett ''Valnnehmung und damit bei der Rezeption vou Kunst an, wohiugegen \ Vatlntrg
aus der Objektwahrnehmung Merkmale der Kunstproduktion ;,blcitct.
Die beiden gemeinsame Rückbindung ästhetis..:her Ph;ittotnetlc an leihliehe
ViJrgänge wird in Notizen deutlich, die \Varbmg I H% auf seiner Atnerikareise sammelt und in denen er R. Vischers stuknweisc i\usdilferemicnmg
1
2:l Vischcr, Über das optische Formgefiihl, S. 2.
2l Ebd. S. 13. Die »sensitive Zufühlung>~ soll eine >•Uiullittclharc geistige .()ul>liuJ;Jtion dc1
sinnlichen Erreguug•< rlarstdlcn, wührcnd die >>Jnotori~chc NachhilduJJg" im Sinne einer »Erinnerung an die Regs~unkcitunscres eigcncu Kinpcrs,, fnuktionicJ L. El,d., S. :2-l.
25 Ebd., S. 8.
1
2fi
vVarburg, Grundlegende Bruchstücke. Aphorismus 270.
86
Cnrnclia Zumbusch
des Einfühlungsvorganges in »Zuempfindung«, »Nachempfinclung<<, >>Einempflndung« und »Anfiihhmg·« in modifizierter Weise aufnimmt.27 R. Vischers Einfühlungsarten nutzt Warburg dort zur Systematisienmg der Rituale, der Symbolik uncl der Omamentik der Puebloindianer als »I. Einverleihung (Medizinischer Zauber) I I I. Hineinumverleibung (Thier) (Nachahmung) I III. Anverleibung (Gerätsymbolik) I IV. Zuverleibung (ornamentale
clöpfcrei)«_ 2 H Mit diesem Notat beginnt Warburg den zweiten Band seiner
Bruch.rtiidre, die er rückblickend urnbenennt und nun unter clem Titel Gmndlcgmdt: ßmdntiicke w cinerpmgmatisc!ten AmdruchJkunde führt. Die monistische
Kunstpsychologie, so cleutet der Titel an, wird in eine allgemeine Ausdruckskunde überllihrt, die nicht mehr auf die bildende Kunst beschränkt bleibt.
Warburg will aus der Beobachtung der »religiösen Handlungen der PuebloIndianer« I Iinweise auf das »Verhalten des primitiven [... ] Menschen zur
Aussenwelt« gewinnen. Damit begibt er sich keineswegs auf einen Nebenschauplatz, er hofft vielmehr, auf dem Umweg über die Ethnolog·ie ins L:entrum seiner psychologischen Ästhetik vorzt;dringen. Den erst~n Eint;ag
in die Gmndlegenden Bruch.sliicke zu einer jmtgmatischen Au.fllruchskwule schließLt
Warburg denn auch mit dem befriedigten Vermerk: >>[D]en Ausdruck für
mein psychologisches Gesetz endlich gefunden; seit 1888 gesucht«_2!J Bei
dieser neuen, ethnologisch inspirierten Kunstpsychologie handelt es sich
noch dezidierter um eine cl1teorie des Symbols, als dies in der 1/lOilirtischm
KiotstjJ.rydwlog1i: der Fall ist. Die Amerikareise gibt nämlich den Anstoß, einige Notizen aus den Grundlegenden BrudL>tiicken auswlagern und sie in einer
Symboltheorie zu konzentrieren. Es entsteht das weit kleinere Konvolut
Symboh111m1 aufgefafit alr jJrimiire [htif{uzglbestimmung; in dem sich Warburg die
systematische Grundlegung einer Symboltheorie vornimmt.
Fiir die L:usammenfiihnmg VOll Ethnologie und Symbolästhetik kalln Warlmrg allerdings weit besser an die Arbeiten F. Th. Vischers anklliipfen als
all R. Vischers Theorie des optischen Fonngefühls. F. Th. Vischer gewinnt
sein Einfühlungskollzept aus der mythischen Naturbeseelullg, also aus
Formell des Animismus und des Anthropomorphismus, bei denen Naturerscheinungen personiflziert und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet
werden. Der mythischen Einfühlung sattelt er ein dreistufiges Modell von
Mythos, Symbolund wissenschafi.lichem oder logischem Zeichen auf. 'J\Terclen im Bereich des Mythos einerseits Bild und Bedeutung verwechselt und
27 Vischer, Über das optische fonngefühl,
S. 2,1 f.
~H \Varburg, Grundlegende Bruchstücke, Aphorisnnts 299.
~!I Ebd.
Der .\lntii/11>1'111'-Atlas
B7
im wissenschaftlichen Zeichen andererseits vollst~iudig gctrcnttt gehalten, so
bildet das ästhetische Symbol eille Zwischenstufe. Es venuittelt den "''Valttheitseindruck mythischer Gebilde«,:ro ohne so bedingungslos geglaubt zu
werden wie der Mvthos. Die Einsicht ill die Differenz von ßezeiclmenden t
und Bezeiclmetem,ist in ihm »vorbehalten«. 11 So bildet das ~isthetische Symbol eine herausgehobene Sonderform zwischen umvillküdicher und willkürlicher BezeichnunF zwischell Idmtilika,ion ulld Diffclcm. Mit dieseilt
Schwebezustand macl~~ F. 'fh. Vischer das wr positiven lkstimmung für das
Symbol, was bis heute die Krux seiner Definition ist: n;illllich an cine1n unbestimmbaren Ort zwischen Präsenz und Absenz, zwischen kultischer ode1
religiöser Einheitsvorstellung und logischelll Zeichen zu 'Ht hm.
Die Auffassung von einer Mittelstelhmg d'~S »vmbeltalten[dc:III" Synibols
zwischen lVIythos und Logik nutzt 'J\Tarburg für seine kultunvissenschaftliche Erweiterung der Symboltheorie, die sich in einem 192:-l gehaltenen Vortrag über die Amerikareise abzeichnet. vVarburg skizziert dort, ausgeltend
vom Schlangenritual der Hopi, eine kleine Geschichte des Schlangensymbols in der abendländischen Kunst. Die Seitlange scheint ihm »ein simtliilliger Maßstab für die Entwicklung von triebhaft-ntagischt:r 1\un;iltenmg zm
vergeistigenden Distamierung« w sein. 32 Bilden im SchLuq:,cmitual "' Limet
und das lebende Tier noch eine magische Einheit<•, 11 so wird diese: Einheit
bereits auf der Stufe der Omamelltik rela1 iviert. Das On tainent tendiert
zur »symbolischen Bilderschrift", es soll "gelesen•< werden und bildet dantiL
eine "zwischmstu(e zwischen \Virklichkeit~:bild und Zeichcll''· H I Ii er sieht
Warburg den ersten Ansatz Zll einer ästhetischen Aulhebttng des mythischen
Glaubens in der Kunst, den er mit einem Seitenblick ~lllf das Schla!Jgcnsymbol in der Kunst der Antike um! der Renaissance mllenllam:rt. Den
diagnostizierten »Sublim.ierungsprozeß» vom Aberglauben hin Zll seiner Abschaffimg läßt er schließlich bei der wissenschaftlichen Bthnrsdumg dn
Natur enden<JI> Der Diavortrag schließt mit einem ßild der SttOIItleittmgen.
die im elektrifizierten Amerika an die Stelle des mythischcn Blitzsymbols
der Schlange getreten sind. Die Einsicht in die' li ennung nvisd1en Bild und
30
:J l
32
:n
:JI
35
>>[E]in einst geglaubtes !v1ythischcs. ohne sächlichcu Glauben. duch mit k !JCndigci Riick
\'crsetzung in diesen Glauben und aufgenorntncH als freies 3sthcti.<:.L-hls, dDch nicht kl'lcs.
sondern siuuvollcs Scheiubild ist sytnbolisch zu llCilllCil•<. \'i::,chcr. I )as Spnl)()L S .. J:~ 1
»Die Unterscheidung zwischen Bild und Sin11, die Eimicht i11 diL· Vct k•tuplllllf', ah bio!\
symbolische bleibt vorbehalten«. Ebd., ~;. '13-1.
·
Aby \Varburg. SchlaugenrituaL Ein Reisebericht, bg. vonUlrich H.aullf, Heil in l~lHH. S. !):)_
Ebd., S. 37.
Ebcl., S.l3.
Ebd .. S. -12.
Contelia Zillllln,sch
Sache ist erst in der modernen Naturwissenschaft vollzogen, die über mythologische Denkweisen aufklärt. Dennoch stellt \Varburg das logische Zeichen nicht als Gipfelpunkt einer Entwicklung dar, sondern gibt im Schlußsatz zu verstehen, daß er das künstlerische Symbol mit seiner >Vorbehaltsstruktur< dem wissenschaftlichen Zeichen vorzieht. Es bewahrt nicht nur
eine Bilderfiille, die demlogischen Zeichen fremd ist; das >>vorbehalten[de]«
Symbol schafft mit seinem Schwebezustand zwischen Einheit und Distanz
auch einen >Denkrall!!l<, welcher der wissenschaftlichen Welterklärung abgeht. Während R. Vischer das Symbol als physiologischen Automatismus
beschreibt, kommt Warburg mit F Th. Vischer zur Auffassung vom Symbol
als einem >>Fortschritt in der Kultur«,:l6 also einer genuin geistigen Leistung.
!Vlit F. '1 'h. Vischers dreistufigem Modell von Mythos, >>vorbehalten[dem]~<
Symbol und Zeichen hat Warburg dabei ein Instrument an der Hand, mit
dem er das Kunstsymbol in eine kulturgeschichtliche Betrachtung einfügen
kann, ohne seine besondere Leistung nivellieren zu müssen. Er geht aber
noch weiter. Das Symbol bildet, so zeigt sich in Warburgs Symboh>mw 11 Z,
Umjang1boliimnung; nicht nur eine Stufe auf dem 'Veg vom Mythos zum Logos; Mythos und Logik sind selbst Stufen des Symbolischen.
II
Das Symbol als Medium der Kultur
Der l ~KR unter dem '1 'itel Sddangewitual erschienene Vortragstext hat sich in
der vVar~mrgrezeption als besonders wirkungsmächtig erwiesen. Allerdings
spncht sich Warburg selbst entschieden gegen die Publikation des Vonrags
aus: den er ni~ht für ein Fachpublikum, sondern für die Patienten der psychIatnschen Heilanstalt Kreuzlingen zusammenstellt. Die präsentierten >>Dokumente zur Geschichte des symbolischen Verhaltens« hält Warburg noch für
"ZU formlos« und wünscht, daß sie neben seiner Frau und seinem Rruder
nur »Professor Cassirer« zugänglich gemacht werden sollten. Auch reol er
an, Cassirer möge >>von den in Amerika angebngenen Fragmenten K;nlltnis [... ] nelunen< 17 Gemeint ist neben den Grundlegenden Bruclntiicken wohl
vor allem das Konvolut Symbolimm.1 m!f[!xhfit al1jminiire Urrzfong:1beJliinmww. Ich
möchte im folgenden einige I Iinweise darauf geben, in welchem Zusan~menFortscl~ritt in der Ktdtur nennen, Yerliert das V\lcsen, das die I-Iing·abc
Cihnscht, Immer mehrsemeungeheuerliche ErbllLarkcit und wird schließlich wm geisugcu. unsichtbaren Symbol><. Ebd .. S. 52.
ELd.
l6 »Ivlit.dnu, .was wir
17
Der 11/JJt'J/W~)'J/r'-Atbs
hang S)'mbohmm1 al1 Umfangibt.ifimmungmit der Bilden eilte tb Amerikareise
steht, und warum 'Varburg die Hoffnung hegt, dag sich gnade Ernst Cassi
rer seiner noch formlosen Symboltheorie widmen mögt:.
Entscheidend fiir das Verständnis der Warbm-gsehen Symbolsein irt sind
m. E. die beiden Begriffsfelder >>Vergleich« und »Verkiirztutg" sowie "])istanzierung« und >>Vermitthmg«.:IH Die symbolische Umfangsbcstitlllllllllt?,, so
die auf den ersten Blick wenig innovative Aus;age, liefen einen "Vergleich«.
Den scheinbar selbstverständlichen Regriff des Vergleichs \ erwcndet \Vatburg aber in eigenwilliger vVeise. Im »Vergleich« wird eine Sache dmch ein
Kürzel ersetzt, wobei die Komplexität des wahrgenonHnenen Gegenstandes
>ver-glichen< im Sinne von >verworfen< oder rtduzicn wird. Syntbolc liefnn
visuelle oder gedankliche Abkürzungen vmt Eindriickm. Soweit bietet Svm
bohwtu.\ als UmfrmgJbe.ltimmung eine Zusammenfassun).!, der aus den Grundlcgendm Bruclr>tiicken bekan!llen Thesen, die er nun aber auf den Begriff dc:r
Umfang:lhntimnwng bringt. Mit >>U mfangsbestinHllllllg" meint Vv'adnn g emen
strukturierenden Zugriff auf die Welt, der dilfuse Eindrüd..tc Hu untrcil\t
und konturiert. Die erkenntnistheoreLische Grundfigur dtr "Umlilllgshcstitmnung" nutzt \Varburg zu einer kulturanthropologischen Obnlegung.
Symbolisches Verhalten beruht auf dem Wunsch »des Suhjcctcs, zwiscLen
sich und das Object [... ]eine Entfernung zulegen«. 1'1 Der Mutseit scludJt
Symbole zwischen sich und seine \Velt, tun sich von ihr zu disl<lllziercn. Je
verkürzter und prägnanter die UmfaugsbestinHnung, desto griil\er ist der
Reflexionsabstand zur v\Telt. In Svmbohllllll.\ al1 l !mfilnglhntilwlwn!~ bcschdnkt
Warburg das Symbol schließlich nicht auf die Kunst, soudem vcmtutet in
den >>menschlichen Funktionen [... ] ReligimL Recht, Kunst. Physiognomik
und Wissenschaft« >>die verschiedenen Stufen des Symholisnms«. Diese Stu·
fen des Symbolischen begreift er- F. Th. Visdters Dreischritt \'on Mythos,
Symbol und Zeichen modifizineud- als Grade der Distanz zwisdtcn Be·
zeichnendem und Rezeiclmctem. Mit >>fortschreitender Kultur<· vngriiEert
sich aber nicht nur die Einsicht in die Distanz zwischen Signifikant und
Sig11ifikat, sondern auch das >>Distanzgefühl« zwischen Objekt und Subjekt.
Im Symbolisierungsakt bezieht sich das Subjekt nicht nur auf stine \Velt, es
festigt sich bei diesem Vorgang auch selbst. Es sind »vet-schiedcnc Grade
[... ]des Ichbewusstseins«, die sich auf den »verschiedenen Stufen des Sym-
:l8 Zu einer ausführlichen Darstellung dieses rritcoril·fragnll'lltS vgl. (
:odldi~l ZllmlHt~dL
\Visseuschaft in Bildern. Symbolund dialektisches Bild in Aby \Varilllr~s i\lucmosym··
Atlas und vValtcr Benjamins l'assagcn-\Vcrk. Bcrlin :200 l.
.19 Aby \Varburg. \VIA, Ill.-1.'5.1 Symbolismm als UmbngsbcstinlliHHif',. I H'lti-l !llll. S. ·2:1.
L
uo
C:ornelia Zumbusch
bolismns« einstellen. 10 Ein höherer Differemierungsgrad stabilisiert die Distanz zwischen Ich und Welt nnd erlanbt einen souveräneren Zugriff anf
die Anßenwelt. Symbolismus, der sich auf allen kulturellen Feldern äußert,
f(mm und regelt also die verschieden gearteten Zug;inge zur Welt.
Au!Eillig in Warburgs Symbolli·agment ist die Vorstellung vom >Dazwischen<
und vom >Mittleren< des Symbolischen, die Warburg ebenfalls von F. Th. Vischer übernimmt, nun aber nichtmehr fiir das ästhetische Symbol reserviert.
Er spricht vom symbolischen Verhalten als einem >>Zwischenzustand« II und
setzt dieses Dazwischen auch visuell um, wenn er die Symbolebene in seinen
unterschiedlich beschrifteten Kreis- oder I falbkreisdiagranunen inm1er im
Mittelstreifen plaziert. Die symbolische Form, so legen diese schematischen
Darstellungen nahe, ist ein Zwischending, das zwischen zwei Sphären vermittelt. Es bildet in dieser Zwischenstellung aber auch den gemeinsamen
Nenner, iiber den sich verschiedene l:<ormen der Welterklärung nebeneinanderstellen und vergleichen lassen. Symbolisches ist also Medium im doppelten Sinne: Es ist einerseits das Mittel, mit dem sich das anirrwl .rymbolimm
auf seine Welt bezieht, und es diellt andererseits als Medium der kultmtheoretischen Betrachtnng dieser Weltverhältnisse. Letzteres deutet sich bereits
in einem fi·iihen Aphorismus aus den Gnmdlegenden BrudL1tiirken an:
Denkbild und Kunstbild
lki wissenschaftlicher Betrachtung wird das unterscheidende Merkmal Zlllll allein herrschenden Gegenstand, bei künstlerischer Betrachtung ist der Träger der
Eigeuschaft mit dem vorgestellten Merkmalunauflöslich verbunden. Das Nfittelglicd ist das Symbol: Ein Kunstbild insofern, als die Eig·enschaft mit Willen und
Körper vorgestellt wird, ein Denkbild insofern die Ideenassociationen aus d[em]
Leben fiir die einzelne Figur nnwirksam gemacht werden sollen42
Knust und \Vissenschafi. werden hier als zwei unterschiedliche vVeisen des
Weltbezugs beschrieben, für die das Symbol als ihr >>Mittelglied« den gemeinsamen Scltliisscl bietet. Mit dieser Feststellung nimmt Warburg eine
wichtige These der Philowplzie der Jymboli•clzm hmnen vorweg, die Cassirer
im Kontakt mit dem \.Varburg-Institut ausgearbeitet hat. Auch Cassirer beschreibt das Symbolische als ein »mittleres Gebiet«, das >>vennittelnde Funktion« hat. 4:1 Er benutzt den Symbolbegrilf, um ein gemeinsames Struktur10 F.bd., S. ll.
lt Ebd., S. 30.
Warburg, Grundlegende Bruchstücke, Aphorismus 52.
t:l Emst C:assirCl. Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Bd. 1 Die Sprache, Darmstadt "'199-1, S. 17.
I~
Der Mntii/OI)'IIr-Atbs
moment, ein >>Mittelglied« und damit ein »Mediutll« II der Betrachttltlg dcr
Kulturformen w gewinnen. Der Begrilf der symbolischen Form Iristel es,
die verschiedenen Kuilurlimktionen wie Mythos, \'\lissenschaft, Sprache,
Kunst, Technik vergleichbar zumachen und ihre jeweiligen Ei~,cngcsculich­
keiten herauszuarbeiten.
Natürlich setzen Warburg und Cassit·er an unterschiedlichen Ausgaugspunkten ein. Cassirer schließt seine Symbolphilosophie an Kants Kritik der
Vernunft an, die er zur Kritik der Kultur umluut. Der Vmrang der Funktion
vor der Substanz, der Tätigkeit vor dem Gegenstand fonkn es dabei, dcu
nWdtbegTifl~, wgunsten eines »Kulturbegriff1s}< aufzugeben. Der »KultttrbegrifF< hat Cassirer zufolge vor dem »WcltbegrifF, den Voncil, tLd\ er sich
vo;n lmplikat des Produzi~rens nicht liisen läß;: Das »Sein" der vVelt sei nur
im kulturellen >>'Ihn« erfaßbar. In diesem Zu.-;anunenhang formuliert C:assirer einen weitgehenden Konstruktivismus: Es gehe nicht so sehr um ''Cestaltungen der Welt«, sundern Ulll »Gestaltuugen Wl vVclt«. 1 ~' Die BetOllllllg
liegt also, mit Nelson Goodman gesprochen, auf den Aku:1t dn vVclterzeugung. Die Parallelen zwischen \.Varhurgs li·agmentariscltet Symholthemic
und Cassirers PlzilmojJille der -~VIIlboli\chen r(mnr.t liegen detl!l(H:It auf der I land.
Beide stellen den Begrilf des Symbols in den Mittelpunkt einer Kultunheorie, indem sie die kulturellen Sphären als Symbolsysteme auffassen. Die
symbolischen Formen Religion, Kunst und v'lissenschaft ulllt:rscheiden sielt
auch bei Cassirer durch verschiedene vVeisen des \'Veltverh~iltnisses, gedacht
als ein »Sich-Verhalten« in der »lzichtung, die sich der Ccist auf ein gedachtes Objektives gibt«:lti Im ßlick auf das symlH)lische Vnhaltcn und anf das
kulturelle cllm betonen beide die konstruktive Leistung des svmbolischett
Verhaltens. Die verschiedenen symbolischen Formen diflnemicren \ Varburg wie Cassirer nach dem Kriterium der Einsicht in die Dist<ulZ zwischen
Bild und Sache. \'Välm:nd sich Cassirer zufolge auf der Ebene des Mythos
die engste Verknüplimg und Vertauschung \'Oll Zeicheu und Bczt:idHtetctu
beobachten läßt, vollzieht sich der Gang der symboliscltt:ll l<t ;rmen dmch
die wachsende Einsicht in die Differenz de; Zeichens. Sei11e lvVelldc 'ont
Substanz- wm Funktionsbegriff ließe sich somit auch fiir \V;ulmrg geltc1Hl
machen. vVarburg erarbeitet, mit Cas~;irer gesprochen, eincttlimktionslugisclten SymbolbegTiff, der das Symbol von dc r '1 atigkeit des Symbolisierens
her denkt.
H
Ebd., S. l!i.
15
F.bd., S. II.
t6
Ebd., S. 9.
~)2
Comclia Zumbusch
Der ,\11/1'11/0I)'IIi'-Atla;;
Zusätzlich zu der kulturtheoretischen Verbreiterung über die sich Warlmrg und Cassirer einig sind, schafft Warburg innerl~~lb des Feldes symbolischer Formen aber noch Platz für einm starken Begriff des ästhetischen
Symbols, der sich bei Cassirer so nicht ausformuliert findet. Für einen Band
zur Kunst als symbolischer Fmm, den Cassirer nie geschrieben hat, hält
Warburg seine eigene Arbeit am Bilderatlas deshalb auch für unerläßlich.
1~l:2K bemerkt er anläf~lich des drohenden \1\Teggangs Cassirers aus Hamburg, daß die >>MnemoS)'lle ihn [Cassirer, C. Z.] erst in den Stand setzen
würde, seine Symbolik der Kunst zu schreiben«.·I7 Ist das Symbol für Warburg bereits ein Mittelglied der vergleichenden Betrachtung der Kulturf(mnen, so behauptet die Kumt als symbolische Form noch einmal eine
privilegierte Mittelstellung zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen
Aberglaube und Logik. Deren Gegensätze immer wieder spannungsvoll
aufeinander zu beziehen, hält Warburg für die Leistung und damit für das
Charakteristikum der Kunst.
»vorbehalten[den]<< Symbols, das die Mitte zwischen mythi~:chc:r \'envechslung und wissenschaftlicher 'Hennung, zwischen magischer l•:inheit und
logischer Differem hält." 11
Kunstscltafkn lt. Kunstgenuss verlangen die lebenskräftige Vereinib"-lllg zweicr
'cclischer I bltungsfonnen die sich beim Normal Menschen eigentlich au'5chlieEen: leidenschaftliches Sich selbst verlieren bi, zur völligen Verwandlung an den
Eindruck und kiihl distanzierende Besonnenheit in der ordnenden Betrachtung
der Diugc. In der Mitte zwischen d. Chaos der leidhaften Erregung und vcrgleichcud aesthctischen Tektonik ureigendich das Klinstlerschicksal.4H
Bezogen auf eine Kulturgeschichte des Symbols heißt dies, daß die amiken
Bildfonuen, die nach vVarburg noch Reste des antiken Kults transportieren,
iu der Kunst der Hochrenaissance angeeignet, umgewandelt und humanisiert werden, ohne zum ganz willkürlichen logischen Zeichen entzaubert
zu werden. Diesen »Entdämonisierungsprozeß« führt der Mnemo.ryne-At!as
mit seinen Bildeneiben vor. 19 Warbm-gs ästhetisches Symbol fällt dabei
weder mit dem romantischen Begriff einer Einheit von Bezeichnetem und
....,.- lkzeiclmendem noch mit dem in der Semiotik etwa bei Peirce gängigen
logischen Symbol zusammen. Sein Begrifl des ästhetischen Symbols basiert zwar auf der erweiterten kulturg-eschichtlichen Perspektive, welche
die beiden gegenläufigen Definitionen umspannt, geht aber in dieser Entgegensetzung nicht auf. Die Kulturtheorie verschiedener symbolischer Formen gipfelt vielmehr in dem von F. Th. Vischer inspirierten Begriff eines
17 VVadmrg, T'agcLlicher der Kultunvisseuschafdichen Bibliothek \Varburg, S. 272.
~H Aby Warburg, WIA, 111.111.2 ltalian Festivals (Festwesen), 1928. Lecture to the
dti>kannwT (1-lamlmrg Chamber of Commerce), H. April 192H, S. -±2.
I!J \Varburg, l'vlncmosync-Einlcitung, S. 171.
111111-
111
Warburgs symbolische Darstellung
Auf dem Vorsatzblatt nennt Warburg das Konvolut SJ'I!II)()ft:,mu., a/.1 [lmjllll!',lbntimmung ein »Symbol der fertigen Gedanken«. Inwiefern hat man es hier
mit einer selbst symbolischen '1 'heorie des Symbols zu tun,J Uher die l•(,nn
der wissenschaftlichen Darstellung bei Warbmg zu sprechen, scheint mHächst müßig hält er doch einen großeil 'Jeil seiner Arheitt·n selbst füt
»formlos« und 'nicht publikationsreif.\ 1 Auch die Grundlegung in Svmboh''"u'
als Urnj(mg\be,~timmung hat Warburg nicht fiir die Üffentlichkeit, soudem für
den »Safe« seines \/;ners geschriebeu.S2 Liegt gerade in dem pwvisorischen
Charakter auch seine Symbolizität!l Symbolisch ist das Fragment S)•Jn/){)1/,Jrtll.\ al> UmjiuzgiiJeltimmung womöglich deshalb, weil es nur auf el\vas vorausweist, was es selbst noch nicht ist. Tatsächlich Hillt auf, daß Warburgs Symboltheorie nur in einer Serie aufeinander verweisender ·lbae w haben ist.
Zur Aufklärung der Thesen aus der Dissert,ttion über Bouicellis nimm•n11
sieht man sich an die zeitgleich verfaßten Gnuu/le!',i'l//l/'1/ Bmdt 1/iidu' verwiesen; die Gn.mrllcgendenllruLhlfiicke w einer moni1ti;dzm KuwljJ.I_)'rlwlogie gehen in
die Grundlegenden Bruchstücke w einer jnagnwlüchm Ali.ldlluln!tundl' über, die
sich wiederum in Svmbo!iwm1 al1 Umjang,be.1timmung fmtseliCil. Symbolisch
wäre Symbolümw als Umj{uzg1bntimmungalso nm, weil es noclt keine "fertigen
Gedanken« vorstellt.5:l
Darüber hinaus spricht nt. E. aber auch einig•:s dafür, \Varbtttg.-; Begrille als
>symbolische Umfangshestinmmngen< zu beschreiben. ( :harakteristisch für
vVarburgs Schreib- und Denkstil sind eigmwillige und Will' !eil seinver exDamit greift die Kritik, die etwa Pani Rie<cur an ( :.tssircrs l'hilosophic syrnb<>lisdll> l·("
n1en führt. in bezog auf \ Varburgs Syn1bolthcoric nicht. H.icii.'llr Yenviril ( :ass.irn s l_)dinition des Symbols, die jede beliebige VcrLindtmf', \'Oll l\ild und llcdcntllllfi c·tllschhcßt.
als eine zu weite Fassung:. Er sellJst willeinen Begriff des poctisdtcn SyndJOls erarlH.'ttcn.
das an den Doppelsinn der Sprache und au den Vorgang der lnttTjH cL1tion gt·lntJHlcn
ist. Panl1{ico:ur. Die Interpretation. Ein Vnsuch iibcr Frcwl. FranLf11rt a. :\L 'I ~)!1!1.
51 'Alarburg, Syntbolisnms als Un1bugsbcstimnnmg. S. :!..
s~ Aby W'arburg, \VIA, Ill.2.4 Zettelkastell >Histocischc Synthese•. Ka>LC 00 1 00 I ~5'!:
))[MJeine allgetneinen Ideen zu offenbaren wider' Villen gczvvuugcn. ich kille stc t!ClllC
als posthume I Iinterlasseuschaft iut Safe Jueiues Vaters liegen lassen''·
5:~ 'Varburg, Syntbolismus als Untfaugsbcstinunung S. :2.
SO
1
Cornelio Zumbusch
1)er
plizierbare Begriffshybride. Das Symbol sei »der absorbierende Nährbodew<
sei "<.tppercipierende 1Vfasse«, 51 »Ausscheidungsprodukt« einer >>Auslese« 55,
es Sei. »Causalitätsform«" 6 oder »Reactionsförm<<,S7 um nur einige der
schreibun~en zu nennen. \Vie die ständigen Umschriften dieser BegritTe zeigen, .smd sie genauso uufertig und antizipatorisch wie das Fragment selbst.
BezeiChnend Ist auch, daß es sich bei seinen Begriffsbildungen um Übertragungen aus ai.Ideren Fachdisziplinen handelt. BegTilfe und Modelle importiert vVarbur~ n~cht .nur aus der Psychologie, sondern auch aus der Biologie
und der Physik lll ehe Kultunvissenschaft. Bei dieser Operationmüssen ihre
Kollt.exte. freilich >ver-glichew, also >verworfen< werden. Dabei folgen seine
Begnffsbildungeu dem Verkürzungskriterium auf weit konsequeutere Weise,
als e~ vVarburgf~JrSC~lern li~b sein kann. Erläuterungen oder Ergäuzungen
zu sem~u Begnffeu fmden ~ICh iu Symboli>mw al1 [hi!fang>he>timnumg nicht. So
SU!d seme Begnfle symbolische Kürzel im vVarburgschen Siune: verkürzt,
verknappt und fonuelhall.
u:n-
l~ie ~erkiirwug kennzeichnet nicht nur die einzelnen Begriffe, sondern auch
f.he Gesamtform de~ Fragments. Symbohmw.> al1 Umj{uzgrbeJtimmung ist eigentiich keme metouynusche Fonschreibung der Bruc!Htüche wr AuJdnakrhunde es
ist ihr Destillat. Bereits .au~gefiihrte Sachverhalte werden hier komprimiert
und venhchtet. Auch ehe Schemata, 'lahellen, Skizzen und Diagramme zeugen von dem Versuch, Zusammenhänge nicht diskursiv auszubreiten soudem f(mnelhaft abzukürzen. Reduktion ist das anvisierte Ziel auch :weh
~ler späten Uberleg1mgen zum Alnemwyne-Atlas. So bemerkt Warburg 1927
m den '!ltgrhiichrm der Kulturwirsen.>dwß/i(hen Bibliutheh 1Utrburg: »Ich fand in
Ka~·lsbad die Möglichkeit (endlich!) meine kunstgeschichtlichen Ergebnisse
auf das psychologisch >Formale< zu reduzieren<<. SB Anders als der Stil Cassirers hißt sich Warburgs Stil nicht als »Umweg<< beschreibeu,s~ sondern als
Ab~iirzung. Seine 13egrilfe sii~~IIlicht nur vorläufig, sie sind vor allem symbolische Kmzel, d1e aus der Ubertrag1mg fachfremder Termini resultiereiJ.
Cerade beim ·n~eorieimport aus den Naturwissenschaften ist sich Warburg
aber des symbolischen Charakters seiner Erklärungen immer bewußt. Seine
"psychologischen Ideen<<, so gibt Warburg zu, sind bloße »Hilfsvorstellun!Jt Ei>d .. S.
5.1) ElHI., S.
:-Jti Ebd .. S.
:J7 Ebd., S.
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r>.
7.
'27.
~8.
WMburg, llrgcbticherder Knhurwisscnschaftlichen lliblio!hck \Varburg, S. 9S.
Barbara Natuuanu. Plulosophie und Poetik des Syn1bols. Cassirer und Go ,tl )\;f" ·1 .
1')~JS, S. 1U.
e Je,
Llllc tm
1' /ntl!lrJ~l'tlt'-Atlas
')!i
gen«lill und seine Anleihen in Biologie und Physik diil fcn, wiv Sa.xl in cincnl
Brief an Gombrich warnend formuliert, nur als »schiincs Cbclmis" gclesc:n
werden.lil Warburgs psychologische »Ccsetze·< dürfen daher durchaus mit
dem »VVie der ]\"Ietapher<< versehen werdeu.ü~
.
So kann man bereits im I-liublick auf Svmbufil,/l/1.1 11il Umj,utgdil'litmlltllng vclll
einer Spielart der symbolischen Darstellung sprechm; sie wi1 d aber im
A!Jnemo.ryne-Atlas noch in eine andere R ichmug wcitngctrieben. In ntetllodische;l Vorüberlegungen zum Atlasprojekt stellt sich \VarLurg implizi.t in
die Nachfolge des Naturforschcrs Goethe. Den Formenwechsel VOJll Mntdalter zur Frührenaissance beschreibt vVarburg als cme lVlct~unorphose des
Stils, in der sich eine Metamorphose des bistmischen Bewußtseins abilil
det. Diese Metamorphose des Geistes sei Illlll, so notiert \Varlmrg Zlllli
»erkenntnistheoretischen On der J\1nemosync«, allein »im l'hiinomen der
Gestaltung<< zu erfassenYl Nimmt man die Anspielung an Coethcs !v~l'ill­
moljJ!wJe der Pjlmnen ernst, so rücken die Bilderreihen dt~s Atlas lll lhe r-Jahe
morphologischer Entwicklungsreihen. Auch mit dem Verwl'IS aui d1e uherragende Bedeutung des »Phänomen[s]« bewegt sJCh \Varbmg au! den Spu
re~1 Coethes. Für Goethe findet Erkenntnis im gleichsaiu >glcickl!chl'll' odn
,fruchtbaren< Augenblick des Apen,;us statt, in dem Anscham1ng und Bcgl'ill
auf einmal zusammentreten. Will Goethe auf seiner italieuischc:n Reise so
wohl die Urpflanze als auch den Typus der vVirbeltiere mtdeckL haben,
so bringt Warburg von seinem Italienaufenthalt I H~l2 cm Apen;u lllll, das
eine lebenslange Forschung nach sich zieht. Die Nympha, d1e Il <lll wcrst Ill
Chirland<~os Fresko der Gehurt deJ }olllllllleJ auffiel und in <I er er pliitzlich
die Mänade des dionysischen Kults sah, hat den Status vines apn\uhaftcn
Initialerlebnisses. \IVarburg feiert sein Aperc;u aber nicht wie Coethe als 0!
fenbarung, sondern beschreibt es als Kxankheit, die sich nicht abschütteln
läßt, bis sie ganz durchgestanden ist: »Ein ent:;chiedenes Apen;u Ist wt~ eme
okulierte Krankheit anzusehen: man wird sie nicht los h1s sie dmchgekamplt
ist«.lil Das Aper<.;u, darüber sind sich Goethc und \Varburg eirJig, schließt
liO Aby \Varburg, Fr~mccsco SZ'tsscttis letztwillige \Tcrfügung. ~n: clci s .. ~;cs ..tlll!llcltc :!)eh~ ift:1~.
Bd. 1.1, Reprint d. von Gertrud Bing hg. Ausg. 193:!.. 1\crlm l.~I~IH. S. 121-l.'iH. h<ct S. l:>H:
{i I Fritz Saxl, V<nn rfhuntph Zlllll Seelendrama. Suchen uud htH~t'll ()(kr _I l!C A~)Lll·l~ll'lll'l
eines Dcnklustigcn. in: Ilscbill Barta-Flicdl. llie lkredsamknt des l.L<!JCs, S. I lu-170.
hier S. 170.
6~ VVarburg, Lecture to Lhc I l!mdd!lunll!J/1'1" (I-iamhtll g (;hanil>el <lf \ :~!illiiHTI.c). l-l. /i.lll il
1928, S. S.
t;:l W'arburg, Tagebücher der Kulturwissenschaftlichen Bibliotkk \Va<IH<q;, S. :J.J.I. .
lllll217. \-\'alunul dc< _J\, bca .nn
Atlas scheint die alte Krankheit ,.vicdcr auszubrechu1, denn \V.u btllg notllTl s1cll: »[:\]ltc
fiJ vVarburg, Zettelkosten •llistorische Syrnhese', Karte 110-l
01i
D~r J\1nt'lii0.1J'Jh'-Atlas
Comelia Zulllbusch
die Forschung nicht ab, sondern stößt sie im Gegenteil erst an. Deshalb
lJleibt ein echtes Apen;u auch nie isoliert: »Alles wahre Apen;u kömmt aus
einer Folge und bringt Folge. Es ist ein Mittelglied einer großen, produktiv
aufsteigenden Kette«. 65 Die Darstellungsfonu, die Warburg in seinem ßilder·
atlas entwickelt, folgt der Struktur der apen;:uhaften Erkenntnis und ihrem
Korrelat in der »aufsteigenden Kette«.
Der Afnemo~ne-Atlas, den vVarburg selbst immer wieder als ȧilderreihew<
bezeichnet, 61i bediem sich der offenen Reihenbildung, die Goethe dem geschlossenen »System« vorzieht. Goethe votiert gegen das >>System« und fiir
die >>Reihe", weil nur die Reihe es jedem Betrachter aufs neue ,,fi·eistellt«,
die einzelnen Funde >>nach seiner Art zu verbinden und ein Ganzes daraus
zu bilde11«. 67 Zur Reihenbildung gehört zuerst die Häufung der Phänomene,
dann ihre Verkettung: >>Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen,
es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt«.tis Die
verkettende Darstellung bildet eine tatsächliche Verkettung der Phänomene
ab. Auch vVarburg möchte mit seinen >>ßilderreihen« Phänomene verketten.
Beim 'üansfer von der Natur auf die Kunst verkehrt sich Goethes Anspiehlllg an die gmd d1m11 ufbeiug bei \Varburg allerdings ins ironische ßild einer
gespannten Wäschesclnmr. Es seien nun, so notiert er »die Pfähle einge·
rammt, an denen wir unsere neue Wäscheleine der Stil~mwicklung gen·c~st
auflJängen köm1en«. 6 !l Die Schnüre der Stilentwicklung sollen dabei nicht
nur gespanm, sondern auch zur 'lexLUr verwoben werden: »Also werden
jetzt endlich die Eiden zum Verweben angekniipft«JII Die lineare Verkettung
eines eiusinnigen Eiltwicklungsgangs wird zur Vorstellung von einer Webtechnik flexibilisiert, die synchrone wie diachronische ßezüge sichtbar macht.
Dabei lassen die Atlastafeln verschiedene Formen der Lektiire zu. Ihr Bildgewebe schreibt keine einheitliche Leserichtung vor, sondern gibt den Anstoß, in der Betrachtung verschiedene Beziige zu aktualisieren. Mit Goethes
Aufinerksamkeit aufs Phänomen, der Programmatik des >>Apen;:u[s]« und
Ideen wurden wieder vimlcnt«. lagcbücher der Knlimwissenschaftlichcn Bibliothek
S. 48.
Go Gocthc, Maximen und Rcllexioncn, S. 414.
Gti Warburg, 'lagehüdrcr der Kulwrwisscnschaftlichen Bibliothek vVarburg, S. Sn.
117
Jolrann Wolfgang Gocthc, Der Versuch als Vermittler von Objekt nml Subjekt, in: dcrs.,
Werke. Bel. 13, S. 10-20, hier S. 20.
·
\~Tarburg,
'!34. Oder auch:» KeinPhänomen erklärt sich an
und aus sich._sc~l~st; n~u· viele, zusanuuen Libcrschaur, Iucthodisch geordnet, geben zuletzt
etwas, das fnr I heone g-elten kann«. Ebd.
liH Goethc. Maximenund Reflexionen, S.
ti9 ":'arbu.rg, rE1gebüchcr der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek VVarburg, S. 253.
711 I•.bd .. S. 84.
der offenen, vom Betrachter in der Anschauung zu vcrvolhtändig<·ndctl
>>Reihe« ist also das Darstellungsprinzip des AlnmW.Il'III'-Atlas gLtrollcn.
Folol man Goethes methodischen Prämissen, so stiitzt sich diese \Visscn·
o
I.
schaftspraxis auf eine Erkenntnistheorie des Symbols. hir C<;cthe hat< 1e
an die Anschauung gebundene Erkenntnis nämlich notwendig Symbolcharakter: >>Das Wahre«, so schreibt er im T0nuch l'iner IVIftrmnp,,/dm· vm1 l R2fi,
>>läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nm im Abglaw,
im Beispiel, Symbol, in eimelnenund verwandten ErscheimlllgeH«J 1 Diese
Überzeugung von der nur indirekten NaturerLenntnis findet sich, nun an!
künstlerische Gestaltungsphänomene übertragen, in \•Varl>urgs \ VIssert·
schaftspraxis wieder. Angemessen scheiut ihm nicht der Aidstieg zu dtn
Ideen sondern ein aufmerksamer Blick auf den Boden, dent die Symbole
entst;mmen. In einem ßrief an Andr(Jolles unterstellt er dem Freuud: »Es
lockt Dich, ihr (der Nympha, C. Z.] wie einer ge!liigeltm Idee dmch alle
Sphären im platonischen Liebeswunsche zu folgen, mich zwingt sie, dtn
philologischen Blick auf den Boden zu richteu, dein sie wtsticg": 7 ~ Dieser
ßlick auf den Boden variiert wiederum ein Thema aus der I larzrctse, lll der
Goethe den Spekulationen iiber die 'Veltelllstdnmg eine \Visscuschaftshal
tung entgegensetzt, die fest auf dem Boden der beobachtbarerl Fakten steht.
Goethe schreibt: »Mein Geist hat keine Flügel, um sich in jcnr Uranhinge
hervorzuschwingen. Ich stehe auf dem Granit fest und frage ihn ob er uns
einigen Anlaß geben wolle zu denken wie die Masse woraus er unst:mdc:n
beschaffen gewesen«.7:1 Ohne an Goethcs Bemerkungen wm poellschut
Symbol anz~dmüpfen, setzt vVarburg damit t'ine Form der symbolischen
Wissenschaft fort, die Goethc initiiert hat. Zu ihr gehiirt die Aufm,~rksamkcll
71 Johann Wolfgang Goethc, V'crsuch einer 'VViucningsklllc. iu: (k1s .. \\'erkc._ Bd. l_::L
S. 30S-313, hier S. 30S. Diese Stelle aus dem 11·n/llh l'l/11'1 II 'ittn 1111~>1,/m' '<>ll I~~!) wte
auch die letzte Zeile der Eingangsszene des J·:nlll !1 - ,)J\m fa1 bigc_n Al>\-)lanz haiJCH-~\'ii
das Leben«- gehen auf Beobachtungen am Rheinürll von Schalllr<HISCll 17~)/ llll.uc·k.
Laut Albrecht Schöne wird der am »\'Vasscrsturz« e1 sdH:iucndc Hegru!J\lgcn Llllll Smn
bild für die indirekte Wahrnehmung und darnit überhaupt z11nt Bild iür ciuv """ di,·
sinnenhafte VVahrnelunung gebuudcnc und zugkidl doch tibcr sie hiual!sdi ~mgcndc
Erkenntnisbenlühung«. Konuucntare. itl: .J<lltallll \V<)lfgJIIg (~<Ktilc. s:ulitlicllc \ Vn kc.
Briefe, T.1gebiidrer und Gespräche. AIJt. I. IId. 7 Er11ol, l\d. ~ Kouullc utall·. hg. voll Al
brecht Schöne, Frankflut a. Ivl. 19~14, S 4 11.
72 Aby \Varbmg. WIA. 111.55.2 vV<1rbmg and A..Jollcs: Nill!Cr Fic>~clltim. I ~JIJO. N<.tcs awl
Fragments.
.
.,
7:l Johann \VolfgangGocthe, Granit I, in: dcrs., Sämtli._·hc \VcrLc. Bn~'k, lagclnichcr_und
Gespräche, Abt. 1, Bd. 2S Naturkulldliclre SchriiLcll. lld. :l Sduillu< "'' allgnllclucn
Naturlehre, Geologie und Mineralogie, hg. voll Woll voll I•:ngdbardt 11. ~.blll!cd V\'cn
zcl, Frankfmt a. M. 1989. S. 312.
Cornclio Zumbusch
aufs Phänomen im Apen;u uud das Vorzeigen des Phänomens in der offenen Reihe - beide methodischen Prämissen setzen in hohem Maße auf die
Anschaulichkeit. Der Primat der Anschauung bildet das Kernstück einer wissenschaftlichen Eiustellung, die Goethe selbst seine »zarte Empirie<< nennt.
So kommt Goethe zu der Einsicht, daß »alles Faktische selbst schon Theorie
ist«, ~-I wem~. man es nur richtig ansieht. Warburgs Bildmomagenlassen sich
m <hesem Snme als Versuch deuten, das Faktische zur Theorie zu erheben.
Die 'llagEihi~keit der Theoriefragmente, die lediglich Hilfsvorstellungen
lHeten, muß SKh m der Zusammenstellung des konkreten J\!faterials enveisen. Mehr noch: In der »zarten Empirie« des Ninemwvne-At!as ist die Zusamutenstellung der Bilder und die Auf~tellung der Tltl~ln bereits Theorie.
vVarlnn gs Interesse am Symbol als unhintergehbarem kulturellem Medium
fiudet sich also auf der Ebene der symbolischen Darstellung seiner Arbeit
wieder. Dies realisiert sich zunächst in seinen symbolisch v~rdichteten Begriflsformeln in ~'vmbohlllliiJ al1 Umj{mg:lb[>lfimmung, stärker aber noch in der
Isolati_on der prägnanten Einzelphänomene und ihrer verknüpfenden Reil~t~ng nu A-f~zmw.~yne-Atlas. Damit trägt er der fi·iihen Einsicht in die Symboh~ttat der etgenen Modellbildungen auch in formaler Hinsicht Rechnung.
l"he symbohsche D<~rstellung läßt sich als die konsequente Umsetzung seines
kt~ltun~tssenschafthc~~en Symbolbegriffs deuten, den er auf der Grundlage
semer Synopsis von Asthetik, Psychologie und Ethnologie formuliert. Die
Kt_dturgeschicht~ des symbolischen Verhaltens, die er als Aufstieg vom myduselten ~um Wissenschaftlichen Symbol konstruiert, verweist die priisenzmetaphystsche Vorstellung von einer Amvesenheit des Symbolisierten im
~ymbolisierenden dabei auf die Stufe einer mythischen Einstellung. Der
llll _Anschluß an die Ein~iihl~mgsästhetik gewiihlte wahrnelmnmgspsychologische Ansatz mmu_nnstert dm gegen die idealistische Aufladung des Symbols. Den_noch .reservtert er dem ästhetischen Symbol eine Sonderstellung innerhalb emes Spektrums kultureller Symbolisierungsformen, wo sich R. Vischer mit sein~r psych~lphysiologischen Fundiemag der Einfühlungslehre
dem Vorwurf emes zu simplen Kurzschlusses aussetzt. Mit seinemlvinemo.ryneA_tlas b~~retbt \Varburg also eine symbolische Wissenschaft im doppelten
Snme: S1e han_delt von der kulturgeschichtlichen Genese der symbolischen
hmnen und ste priisentiert sich selbst in symbolischer Form.
STEFAN RIEGER
Scheinbilderfolgen
Zur Mediengeschichte des Symbolbegriffes
An1 nlathcntati:lchcn Ennntrf dc1 Natur ist \\ ic-
dennn nicht prinün das fV!athcmatischc· cds sol
chcs cntschcid<:nd, sondcm d.d\ n ein Aprimi
crschlid\t. Und so bestellt denn auch das V<><··
bildliehe der nuthcmatischcn Natmwissemdul"t
nicht in ihrer S} ~czifi.schL·u
Fx~dzthcit
und \'n bind
Iiehkeil für :Jcdcrmalnt•, sowktn dcnin, daß in
ihr das thematische Seiende so entdeckt ist, wie·
Seiendes cinzi~; entdeckt \\'erden kann: im vm
gängigen Entwllrf sciuct SL·ins \'LTfa .. ;sung. I
Versuche sich vorzustellen, sich nichts vorstellen w kilnnen. enden Il<tttirgemiiß fa,taL Alleralltäglichste Dinge wären de1u Meuschcn als delll Subjekt
der Vorstellung ebenso unzugänglich wie dtt an <hese _Dmgc gekn:Ipftcn
Beweg1mgsabläufe. Wie sich etwa das Antrielrspendel ruter llledtamschcn
Uhr bewegt oder wie sich ein Rad dreht, aber auch wtc clekt~ IS<~her Strom
in einer Spule Hießt oder wie sich elektromagnetische vVellen un Raum aus·
breiten- all das wäre dem Vorstellungsvermögen verstellt und dannt mcht
handhabhar. Die beiden genannten Beispielfelder sind Bereichm des vVissens geschuldet, die ihrerseits einen Wechsel in der Politik der Vm stellung
nahezu mustergültig verkörpern. Mit der Differenz zwischm Pendeln und
Rädern einerseits und elektromag11etischen \l(ngängen andncrscns 1st unter der Hand eine Grenze betroffen, an der die Vorstelllwlzeit, die l hrstellbarkeit und auch die Zustellbarlzeit physikalischer PhänmneJIC nachgerade
topisch verhandelt werden. Es ist die Grenze zwischen cinn klassischen
Physik und dem, was Ernst Cassirer einmal titelgebend al~; A1odmze Plzv11R
beschrieben hat. 2
l
Martin Heideggel; Sein und Zeit. cl!ii.Jingcn I '1981. S.
:J(j2.
.
Erusl Cassirer, Zur IIH)(kn1en Physik, Darntstadl 7 l~)D-!; nnt dnt hl·•~ku Abhaudlungc~l
71
Coctlte, Maximen und Reflexionen, S. -!32.
?ur Fin.lltiii.!Chen Relativilii/ith,·oril'. Frlcnmllli>lheortliii hr lie/r({( hlt/11!',<'11 (I~)~! I) und /)<"fmll/111,
~w.r mul InddnminiJJ!III.\ in dn Jllodt'fllfll P!~)'lik 1!i.Jtor/1rht und l)'.\ll'llulliHht S!11dwn ;~11111 A~llt\,d
Jnohlon (1936).
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